Nach Stationen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei der Berliner Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem Neuen Tag in Weiden und der Zeitschriftenredaktion von Schott Music in Mainz, rezensiere und schreibe ich für Print (Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Freitag, Frankfurter Hefte, mare, Rheinpfalz), für ZEIT online, das Signaturen-Magazin und für den Hörfunk (DLF, SWR, WDR).
Seit 2019 bin ich Redakteurin des Kulturteils der Frankfurter Hefte.
Beratend und moderierend gehöre ich zum Team des Poet:innenfests Erlangen.
Regelmäßig moderiere ich im Hessischen Literaturforum, Frankfurt am Main, in den Literaturhäusern Frankfurt, Freiburg, Stuttgart und Wiesbaden und im Haus für Poesie, Berlin.
Ich gehörte bzw. gehöre diversen Jurys an:
für den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt (Lektorat/Vorjury, seit 2024) für den Horst-Bienek-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (seit 2024), zur Vergabe der Villa-Aurora-Stipendien für Literatur, Los Angeles (seit 2024),
für die der SWR-Bestenliste (seit 2019),
für den Orphil-Preis der Stadt Wiesbaden (seit 2018),
für den Peter-Huchel-Preis des SWR und des Landes Baden-Württemberg (2019-2022),
für das „Buch des Monats“ Darmstadt (seit 2020),
für den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (seit 2018),
für den 2019 vergebenen Gertrud-Kolmar-Preis,
sowie in den Jahren 2018 und 2020 bis 2022 für den GWK-Förderpreis Literatur.
An der Justus-Liebig-Universität Gießen, am DLL, dem mediacampus, Frankfurt am Main und in der Berliner Akademie für Lyrikkritik hatte bzw. habe ich Lehraufträge für Literaturkritik und zur Gegenwartsliteratur mit einem Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Gegenwartslyrik.
Studiert habe ich in Germanistik, Anglistik und Theater- und Filmwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität und der Freien Universität Berlin.
Dort habe ich mein Studium mit einer Arbeit über Paul Celans Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ abgeschlossen.
Literaturkritikerinnen und -kritiker: Martina Läubli, Beate Tröger und Gerrit Bartels Moderation: Carsten Otte (SWR)
In Deutschland erscheinen ungefähr 90.000 Buchtitel pro Jahr, das sind rund 250 Titel am Tag. Eine Jury aus derzeit 30 renommierten Literaturkritikerinnen und -kritikern wählt jeden Monat zehn Bücher auf die „SWR Bestenliste“, denen sie möglichst viele Leserinnen und Leser wünscht. Während die üblichen Bestsellerlisten auf das Bekannte und Etablierte vertrauen, ist die „SWR Bestenliste“ auf der Suche nach Neuentdeckungen, nach unbekannten Autoren, für die nicht gleich der große Werbeetat eines Verlags zur Verfügung steht, die aber Aufmerksamkeit verdienen: Das garantiert monatlich immer wieder Neues, Überraschendes und Unterhaltendes. In der Live-Aufzeichnung aus dem Kiesel im k42 in Friedrichshafen diskutieren am 26.03.24 um 19:30 die Literaturkritikerinnen und –kritiker Martina Läubli, Beate Tröger und Gerrit Bartels über die folgenden vier Bücher: „Bannmeilen“ von Anne Weber, „Zitronen“ von Valerie Fritsch, „Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde sowie „James“ von Percial Everett. Lesen werden die beiden Sprecherinnen und Sprecher Antje Keil und Johannes Wördemann. Moderiert wird die Veranstaltung vom Literaturkritiker, Schriftsteller und Rundfunkmoderator Carsten Otte vom SWR
Hier ist die SWR Bestenliste aus Friedrichshafen auch um 17:05 Uhr im SWR2 nachzuhören.
In „Bannmeilen“, dem neuen Roman von Anne Weber, erkundet die Erzählerin eine Gegend, die direkt von ihrer Haustür liegt, die sie aber bisher immer gemieden hat: Sie durchstreift die Banlieue von Paris, zu Fuß, Seite an Seite mit dem Freund, der dort aufgewachsen ist und bis heute dort lebt. Aus den Beobachtungen, den Gesprächen mit dem Freund und dem Stammpublikum eines Cafés entsteht ein lebendiges und nachdenklich machendes Bild einer Gegend und ihrer Bewohner, Wird das Vertraute fremder, wie das Fremde allmählich vertrauter wird? Zumindest ist die Irritation produktiv.
Sie sind unterwegs in der Banlieue, genauer gesagt im Département Seine Saint-Denis. Sie, das sind die namenlose Erzählerin und ihr Freund Thierry. Der Filmemacher, in der Banlieue aufgewachsen und bis heute dort lebend, möchte für einen Film recherchieren. Die Erzählerin ist gebürtige Deutsche, Wahlpariserin seit Jahrzehnten, lebt „intra muros“, also innerhalb des Autobahnrings, der Paris von der Banlieue trennt. Sie hat ferne Kontinente bereist, Städte erforscht und Inseln erwandert, aber:
„Für das Fremde und Andere in nächster Nähe war ich blind geblieben.“
Um gegen diese Blindheit anzugehen, trifft sie nun regelmäßig Thierry zu langen Spaziergängen. Um klassisches Flanieren handelt es sich hier aber keineswegs. Die beiden lenken den Blick weg von Postkarten der „Stadt der Liebenden“. Sie schauen dahin, wo viele gern wegschauen. Durch unwirtliche Straßenschluchten Als Sohn eines Algeriers und einer Französin und als Intellektueller kennt Thierry beide Welten. Er wird zum Guide seiner langjährigen Freundin auf den Streifzügen, Sie führen durch unwirtliche Straßenschluchten zwischen der Autobahn führen, vorbei an Drogendealern, Sperrmüllhaufen, durch Großwohnungssiedlungen wie die Cité des 4000, zu den Friedhöfen der Banlieue. Die beiden lassen sich treiben:
„Das Schöne ist (ein Schönes ist), dass wir keine festen Routen haben, wir gehen der Nase nach, wir kennen keine Umwege. Wo es uns hinzieht, ist unser Weg.“
Die zärtliche Ironie, die viele Gespräche bestimmt, zeigt die Vertrautheit der beiden, aber häufig auch ihre Hilflosigkeit angesichts der Eindrücke. Sie äußert sich auch im Ton der namenlosen Erzählerin:
„Was wollen bloß diese zwei Verrückten, die hier dauernd zwischen Autobahnen und Müllhalden rumrennen?“
Ja, was wollen sie? Und was dieser eigenwillige Roman? Er will anschreiben gegen Klischees, will Bewegung bringen in das starre Denken über Parallelgesellschaften. Viele Bewohner von Paris haben Wurzeln in anderen, außereuropäischen Ländern. Mit ihnen Seite an Seite zu leben, könnte bedeuten, genauer wissen zu wollen, welche Geschichten sie erzählen, warum sie so oft schweigen, wie ihnen anders zuzuhören wäre. Oft spricht schon ihre Sprache für sich, was die Erzählerin mit feinem Gehör wahrnimmt:
„Thierry ist der einzige Franzose, den ich je im sogenannten Passé simple habe sprechen hören, einer Vergangenheitsform, die im Französischen schon lange nur noch in der Schriftsprache überlebt. Im Deutschen gibt es dafür keine Entsprechung, doch die Wirkung ist ungefähr so, als würde jemand sagen: In diesem Haus ward meine Mutter geboren.“
Was der Erzählerin gleich zu Beginn auffällt, ist ein typisches Assimilationsphänomen unter Zugewanderten. Geschichten wie die von Thierry und seiner Familie, die von Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Fremdheit, von Sehnsucht nach Sicherheit und Zorn über Zwang und Willkür gegenüber Zugewanderten sprechen, zeigen: Schwierig ist das Miteinander zwischen denen, die sich immer schon für Franzosen halten, denen, die es gerne wären und denen, die es lieber nicht sein wollen, auch wenn sie dort leben.
Das Café Montjoie, in das Thierry und die Erzählerin immer wieder zurückkehren, in dem sie sich mit dem Betreiber Rachid und den Stammgästen vorsichtig vertraut machen, wird zu einem theatrum mundi der Banlieue. Rachid ist dort hängengeblieben. Er hat einen kleinen Verlag gegründet, in dem er regelmäßig Zeitschriften für Sammler herausgibt.
„Er holt einen uralten Laptop unter der Theke hervor und klappt ihn auf wie einen Mund voller Zahnlücken, Es fehlen einige Tasten, die aber scheinbar trotzdem noch zu bedienen sind.“
Hilflos reagiert die Erzählerin, als sie für ihre Idee, Rachid ihren alten Laptop zu schenken, von Thierry mit mildem Spott bedacht wird. Nein, so einfach ist es nicht. Sie muss immer wieder ihre Haltung überdenken. Es ist eine Stärke dieses Romans, dass seine Erzählerin sich im Beobachten selbst zu reflektieren sucht. Welchen Klischees sitzt sie auf? Was lässt sich besser verstehen, was bleibt fremd, unterwegs zwischen Beton, Gräbern, einem riesigen Data Center, der Autobahn und dem Café? Und:
„Wo sind sie alle, die aufgebrochen und nie angekommen sind?“
„Bannmeilen“ wirft viele Fragen auf. Der Roman, der sich trotz dokumentarischer Züge als Fiktion verstanden wissen will, ist kein bequemes Buch. Aber ein notwendiges, das zum Nachdenken über den Umgang eines Landes mit seinen zugewanderten Bewohnern zwingt, über ihre Geschichte und Zukunft, über Fragen der Identität, des Miteinanderlebens, in Verschiedenheit und Toleranz, vielleicht sogar Akzeptanz. Es gibt den Impuls, selbst genauer dorthin zu schauen, wo es auch vor der eigenen Haustür sehr schnell fremd wird.
Was ist ein Dorf? Eine schnelle Antwort darauf haben alle parat. Dass man die Antwort auf diese Frage aber auch poetisch geben kann und dabei eine ganz überraschende Bestimmung eines Dorfs erhält, führt Hans Thill in „Neue Dörfer“ vor.
Dem Schreibenden eröffnen sich dabei vor allem Möglichkeitsräume. In der Geografie bezeichnet Dorf eine ländliche Gruppensiedlung mit einer Größe von etwa 100 Einwohnerinnen und Einwohnern und etwa 20 Höfen oder Gebäudekomplexen. Im Grimm‘schen Wörterbuch liest man: „ursprünglich hiesz es wol so viel als zusammenkunft geringer leute dann aber eine niederlassung derselben an einem solchen ort, um ackerbau zu treiben.“
Auch der Lyriker Hans Thill bezieht sich auf den Eintrag im Grimm‘schen Wörterbuch. Er verwendet das Zitat als eines mehrerer Motti. Ein Avantgardist Thills Schreiben ist dabei eng verwandt mit Literaturströmungen, die ihr Sprachmaterial besonders gern spielerisch einsetzen, die Wahrnehmungen hinterfragen, ja, auf den Kopf stellen wollen: Das kann die karnevalistische Literatur sein, die Hierarchien verkehrt. Es sind auch die französischen Surrealisten, oder die russischen Oberiuten rund um die kurzlebige Leningrader Künstlervereinigung OBERIU, kurzum: Hans Thill ist ein Avantgardist. Liest man vor diesem Hans Thill Neue Dörfer Kleine Prosa Poetenladen, Leipzig 168 Seiten 19,80 Euro Hintergrund die Erklärung des Wortes „Dorf“ aus dem Grimm noch weiter, dann bleibt die Aufmerksamkeit an einer genaueren Lokalisierung des Dorfes hängen: „auf freiem feld“ Wie das Dorf also ein Ort „auf freiem Feld ist, so ist auch jedes Stück Papier ein freies Feld. Die Wörter bilden quasi auch ein Dorf, und weil Hans Thill in den Prosaminiaturen des Bandes, die in zwei Abteilungen mit je zwölf Kapiteln versammelt sind, pro Text in etwa hundert Wörter verwendet, könnte man sagen: der Text selbst kann hier als Dorf gedacht werden.
Wie aber sieht nun so ein Thill’sches neues Dorf aus? Traumhaft, surreal, komisch, das bestimmt. Aber auch literarisch vexierend zwischen Innen und Außen. Diese Texte sind auch Felder, auf denen unterschiedliche Sprechweisen zusammenkommen. In dem Kapitel „Die klassischen Dörfer“ wird eines so beschrieben:
„Das nächste Dorf, Fachwerk, fett und schwer auf dem festen Mutterboden. Die Veronika wohnt gleich im zweiten Haus. Sie sagt die Zukunft aus einer Flasche und einem Hasenbrot. Die Tse-Tse-Fliege winzig klein, sticht sie dich, dann schläfst du ein. Es sind die Lebenden, die den Toten in den Ohren liegen. Ich verstehe immer nur Koch, Haumichkäse. Captain Kirk und seine Mannen verwandelten sich in eine Schweineherde. Wir landen bei den Dorfmücken, wir führen ein Honigprotokoll. Veronika ist jetzt müde. Wir packen den Wunsch beim Schwanz. Wir landen mit der Enterpreis auf einem Stern mit einem intelligenten See. Ubu dreht sich zur Wand, Zeit zu schlafen, Ubi UBU.“
Dem Belesenen mag gleich auffallen, wie vielfach Hans Thill hier literarische Zitate und Figuren eingeflochten hat: Monika Rincks preisgekrönter Gedichtband „Honigprotokolle“ wird zitiert. Picassos einziges Drama „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“. Und Alfred Jarrys „Roi Ubu“, der König Ubu, der von Surrealisten und Dadaisten überaus geliebt wurde und eine Galionsfigur des amimetischen Theaters der Moderne geworden ist, taucht auf. Lustvoll werden mit Captain Kirk und der Odyssee unterschiedliche historische Zeiten vernäht, denn hier verwandelt eben nicht Circe Odysseus und seine Mannen in Schweine, nein, es ist die Belegschaft aus dem „Raumschiff Enterpreis“, die hier freiwillig zu Schweinen wird.
So fungieren etliche der Dörfer als das, was einmal explizit „Kraftwerk aus Quatsch“ genannt wird. Thills Dörfer bersten vor Erfinderfreude und Sprachlust. Sie sind bisweilen Pendants zu Seelenlandschaften, bisweilen tragen sie aber auch Züge von Städten, wie etliche von denen, die unter „Die gestatteten Dörfer“ versammelt sind, da landet man schon mal unversehens im „Dorf“ namens München
„Ich sah Achternbusch im Schneider sitzen, die Augen rot wie Schattenmorellen, Noch roter die Ohren damals, die Titten der Zenzl irgendwo, die der Aphrodite. Das Dorf ist jetzt ab durch die Deko. In Schwabing schwächelte die Revolution so vor sich hin, es war Mühsamzeit“.
Und tatsächlich gibt es auch „mühselige Dörfer“, muss sich das Ich, das hier spricht und sich manchmal in ein nicht näher spezifiziertes Wir verwandelt, hin und wieder auch mit Dörfern plagen, die „der Handke sich ausgedacht“ oder aus denen „der Hamm einen FILM gemacht“ hat, wie es heißt. Doch immer sind diese phantastischen Dörfer sprachliche Zauberzentren in ihrer Musikalität, ihrer Rhythmik näher an der lyrischen Sprache, als es der Untertitel des Bandes „Kleine Prosa“ suggeriert. Sie führen vor, wie sich die Wahrnehmung bestimmter äußerer und innerer Orte eines Einzelnen kraft seiner Phantasie in individuelle Sprache übersetzen lässt. Sie sind poetische, manchmal parodistische, manchmal auch sehr private Clusterbildungen, sprachutopische Reisebeschreibungen.