„An den Rändern von Paris.“ Rezension von Anne Weber „Bannmeilen“. Ein Roman in Streifzügen (6. März 2024, Deutschlandfunk, Büchermarkt

In „Bannmeilen“, dem neuen Roman von Anne Weber, erkundet die Erzählerin eine Gegend, die direkt von ihrer Haustür liegt, die sie aber bisher immer gemieden hat: Sie durchstreift die Banlieue von Paris, zu Fuß, Seite an Seite mit dem Freund, der dort aufgewachsen ist und bis heute dort lebt. Aus den Beobachtungen, den Gesprächen mit dem Freund und dem Stammpublikum eines Cafés entsteht ein lebendiges und nachdenklich machendes Bild einer Gegend und ihrer Bewohner, Wird das Vertraute fremder, wie das Fremde allmählich vertrauter wird? Zumindest ist die Irritation produktiv.

Sie sind unterwegs in der Banlieue, genauer gesagt im Département Seine Saint-Denis. Sie, das sind die namenlose Erzählerin und ihr Freund Thierry. Der Filmemacher, in der Banlieue aufgewachsen und bis heute dort lebend, möchte für einen Film recherchieren. Die Erzählerin ist gebürtige Deutsche, Wahlpariserin seit Jahrzehnten, lebt „intra muros“, also innerhalb des Autobahnrings, der Paris von der Banlieue trennt. Sie hat ferne Kontinente bereist, Städte erforscht und Inseln erwandert, aber:

„Für das Fremde und Andere in nächster Nähe war ich blind geblieben.“

Um gegen diese Blindheit anzugehen, trifft sie nun regelmäßig Thierry zu langen Spaziergängen. Um klassisches Flanieren handelt es sich hier aber keineswegs. Die beiden lenken den Blick weg von Postkarten der „Stadt der Liebenden“. Sie schauen dahin, wo viele gern wegschauen. Durch unwirtliche Straßenschluchten Als Sohn eines Algeriers und einer Französin und als Intellektueller kennt Thierry beide Welten. Er wird zum Guide seiner langjährigen Freundin auf den Streifzügen, Sie führen durch unwirtliche Straßenschluchten zwischen der Autobahn führen, vorbei an Drogendealern, Sperrmüllhaufen, durch Großwohnungssiedlungen wie die Cité des 4000, zu den Friedhöfen der Banlieue. Die beiden lassen sich treiben:

„Das Schöne ist (ein Schönes ist), dass wir keine festen Routen haben, wir gehen der Nase nach, wir kennen keine Umwege. Wo es uns hinzieht, ist unser Weg.“

Die zärtliche Ironie, die viele Gespräche bestimmt, zeigt die Vertrautheit der beiden, aber häufig auch ihre Hilflosigkeit angesichts der Eindrücke. Sie äußert sich auch im Ton der namenlosen Erzählerin:

„Was wollen bloß diese zwei Verrückten, die hier dauernd zwischen Autobahnen und Müllhalden rumrennen?“

Ja, was wollen sie? Und was dieser eigenwillige Roman? Er will anschreiben gegen Klischees, will Bewegung bringen in das starre Denken über Parallelgesellschaften. Viele Bewohner von Paris haben Wurzeln in anderen, außereuropäischen Ländern. Mit ihnen Seite an Seite zu leben, könnte bedeuten, genauer wissen zu wollen, welche Geschichten sie erzählen, warum sie so oft schweigen, wie ihnen anders zuzuhören wäre. Oft spricht schon ihre Sprache für sich, was die Erzählerin mit feinem Gehör wahrnimmt:

„Thierry ist der einzige Franzose, den ich je im sogenannten Passé simple habe sprechen hören, einer Vergangenheitsform, die im Französischen schon lange nur noch in der Schriftsprache überlebt. Im Deutschen gibt es dafür keine Entsprechung, doch die Wirkung ist ungefähr so, als würde jemand sagen: In diesem Haus ward meine Mutter geboren.“

Was der Erzählerin gleich zu Beginn auffällt, ist ein typisches Assimilationsphänomen unter Zugewanderten. Geschichten wie die von Thierry und seiner Familie, die von Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Fremdheit, von Sehnsucht nach Sicherheit und Zorn über Zwang und Willkür gegenüber Zugewanderten sprechen, zeigen: Schwierig ist das Miteinander zwischen denen, die sich immer schon für Franzosen halten, denen, die es gerne wären und denen, die es lieber nicht sein wollen, auch wenn sie dort leben.

Das Café Montjoie, in das Thierry und die Erzählerin immer wieder zurückkehren, in dem sie sich mit dem Betreiber Rachid und den Stammgästen vorsichtig vertraut machen, wird zu einem theatrum mundi der Banlieue. Rachid ist dort hängengeblieben. Er hat einen kleinen Verlag gegründet, in dem er regelmäßig Zeitschriften für Sammler herausgibt.

„Er holt einen uralten Laptop unter der Theke hervor und klappt ihn auf wie einen Mund voller Zahnlücken, Es fehlen einige Tasten, die aber scheinbar trotzdem noch zu bedienen sind.“

Hilflos reagiert die Erzählerin, als sie für ihre Idee, Rachid ihren alten Laptop zu schenken, von Thierry mit mildem Spott bedacht wird. Nein, so einfach ist es nicht. Sie muss immer wieder ihre Haltung überdenken. Es ist eine Stärke dieses Romans, dass seine Erzählerin sich im Beobachten selbst zu reflektieren sucht. Welchen Klischees sitzt sie auf? Was lässt sich besser verstehen, was bleibt fremd, unterwegs zwischen Beton, Gräbern, einem riesigen Data Center, der Autobahn und dem Café? Und:

„Wo sind sie alle, die aufgebrochen und nie angekommen sind?“

„Bannmeilen“ wirft viele Fragen auf. Der Roman, der sich trotz dokumentarischer Züge als Fiktion verstanden wissen will, ist kein bequemes Buch. Aber ein notwendiges, das zum Nachdenken über den Umgang eines Landes mit seinen zugewanderten Bewohnern zwingt, über ihre Geschichte und Zukunft, über Fragen der Identität, des Miteinanderlebens, in Verschiedenheit und Toleranz, vielleicht sogar Akzeptanz. Es gibt den Impuls, selbst genauer dorthin zu schauen, wo es auch vor der eigenen Haustür sehr schnell fremd wird.

https://www.deutschlandfunk.de/anne-weber-bannmeilen-ein-roman-in-streifzuegen-dlf-9264b108-100.html

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