Es beginnt wie ein Krimi. Ein Mann mit einem Teleobjektiv hat die 45-jährige Ich-Erzählerin und mittelmäßig erfolgreiche Künstlerin in ihrem Haus in Los Angeles und ohne deren Zustimmung fotografiert. Wer ist er? Der Nachbar von der FBI, der den Vorgang beobachtet hat, bietet an, es herauszufinden. Was ein Whodunit-Krimi zu werden scheint, biegt in diesem überraschende Haken schlagenden Roman allerdings schnell in eine andere Richtung ab.
Die Erzählerin, eingezwängt in den Ehe- und Familienalltag, verlässt das Haus. Ein Honorar für eine Auftragsarbeit kommt ihr gerade recht, um für vierzehn Tage Abstand zu nehmen vom Alltag als Mutter und Lebensgefährtin und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen:
„Mit einem Partner hatte man die Geschichte des Kennenlernens, warum man sich aus allen Menschen der Welt gerade den jeweils anderen ausgesucht hatte, und die gemeinsamen Jahre waren durch gemeinsame Entscheidungen in Kapitel eingeteilt – keiner konnte je sagen, es wäre alles nur ein Traum gewesen; beide Parteien waren verantwortlich. Anders mit einem Kind. Für das Kind war es ein Traum. Und die durch nichts interpunktierten Tage und schließlich Jahre gingen immer schneller dahin (für den Elternteil), sodass man eigentlich nur im freien Fall durch das Chaos rauschen, wie eine Irre Sandwiches machen und Haare waschen und hoffen konnte, dass es am Ende irgendein Ritual, etwas Zeit zum Rekapitulieren geben würde.“
Anstrengender Eiertanz der Paarbildung
Der Erzählerin dämmert auch, dass sie und Harris womöglich gar nicht so gut zusammenpassen, jedenfalls noch nicht, obwohl sie seit vielen Jahren ein Paar sind:
„Zwischen Harris und mir geht es förmlicher zu, wie bei zwei Diplomaten, die nie sicher sein können, ob der andere nicht ihren Drink vergiftet hat. Die ewig Durst haben, aber immer wollen, dass der andere den ersten Schluck nimmt. Du zuerst. Nein, du zuerst! Nein, nach dir, bitte. So ein Eiertanz klingt vielleicht anstrengend, aber ich war mir ziemlich sicher, dass wir zuletzt lachen würden. Wenn dann alle anderen die Schnauze voll hätten voneinander, würden wir endlich unseren Durchbruch feiern und in die Flitterwochen fliegen. So mit Mitte sechzig wahrscheinlich!“
Die Devise der Reise bespricht sie mit ihrer Freundin Jordi, die weiß, was mit dem Honorar zu tun ist:
„Gib es für Schönheit aus!“
Weit kommt die Erzählerin allerdings nicht, sie landet in der kalifornischen Kleinstadt Monrovia. Dort verliebt sie sich in den 14 Jahre jüngeren Davey, den sie zufällig in der Autovermietung trifft. Sie bleibt und lässt sich von einer Innenarchitektin, die sich als Daveys Frau entpuppt, ihr Motel-Zimmer zu einem exquisiten Refugium ausstaffieren. Denn sie folgt ihrer Devise, das Geld für Schönheit auszugeben, woran es einem Motelzimmer ja meistens mangelt. Für die Umgestaltung geht das gesamte Geld drauf. Sie beginnt eine schüchterne Liaison mit dem Jugendlichen und verstrickt sie sich gegenüber ihrer Familie in ein Lügennetz. Das erscheint ihr zunächst selbst sogar stimmig:
„Für mich erzeugen Lügen genau die richtige Menge an Problemen, und auch ich zeige mein wahres Gesicht, aber immer nur eins meiner vier oder fünf – jedes davon real und mit ganz eigenen Bedürfnissen. Die einzige gefährliche Lüge ist eine, die mich zwingt, mich selbst auf ein einzelnes praktisches Wesen zu reduzieren, das man verstehen kann. Ich bin ein Kaleidoskop, und jede glitzernde Glasscherbe changiert, sobald ich mich bewege.“
Odysseus im Digitalzeitalter
Kann man, eingeklemmt zwischen Lügen und Routine noch einmal jemand ganz anderes und dabei bestmöglich mit sich selbst identisch werden? Diese Fragen, die die Erzählerin auch immer wieder mit ihrer Freundin Jordi verhandelt, lassen die Erzählerin auf himmelschreiend komische, skurrile Weise zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Träumen tänzeln. Die von Zufällen bestimmte Abenteuerfahrt macht aus ihr einen weiblichen Odysseus im Digitalzeitalter – verlockt, verpeilt und nicht selten verwundert über die eigenen mentalen und erotischen Metamorphosen. Dabei geht es auch um moderne Mythen, um die ideologischen Momente, die in vermeintlichen Gewissheiten und Wahrheiten über Männer, Frauen und deren Biologie stecken.
Eine Notlüge macht das Feld auf für eines der zentralen Themen des Romans. Nach der Trennung von Davey und ihrer Rückkehr nach Hause greift die Erzählerin zu diesem Schwindel, um Harris ihre andauernde Traurigkeit zu erklären:
„Ich senkte den Kopf, zog die Knie ans Kinn und überlegte verzweifelt, welches Ereignis oder welche Verfassung ich vorschützen könnte; irgendwas Respekteinflößendes, aber nicht zu Krasses, das einen Schlussstrich unter dieses Gespräch ziehen würde. ‚Ich … ich komm in die Wechseljahre.‘ ‚Oh!‘ Seine Miene veränderte sich auf einmal vollkommen, wurde weicher und ließ ein leichtes Unbehagen erkennen. ‚Okay.‘ Diese Lüge fand ich vertretbar.“
Losgelöst von Alter und Weiblichkeit
Das Leben der Künstlerin, das zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon aus den Fugen ist, bekommt durch diese Notlüge eine weitere drastische Wendung. Julys Protagonistin beginnt über diese Veränderung in einer Weise nachzudenken, die das ermüdende und langweilige Lesen von Ratgeberliteratur überflüssig macht. Sie räumt mit Mythen zum Thema „Wechseljahre“ rigoros auf. Ohne didaktischen oder Wahrheits-Anspruch zerlegt sie, in welcher Weise ein noch immer vergleichsweise wenig erforschtes medizinisches Thema diskursiv verhandelt wird, und wie der öffentliche Diskurs – erinnern wir uns an Harris‘ leicht unbehaglichen Gesichtsausdruck – Verhalten und Denken lenkt und steuert.
Oder eben nicht: Mit Julys Protagonistin, die dazu eine ganze Reihe von Frauen befragt, lernt man, dass Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber diesem Phänomen auch ganz andere als physisch und psychisch degenerative Wechseljahreserfahrungen möglich machen:
„Ich fühlte mich wie losgelöst von meinem Alter und meiner Weiblichkeit und schwamm demzufolge in ungeahnten neuen Weiten aus Freiheit und Zeit. Man konnte sich immer wieder neu ausrichten auf diese Weise, durch Intimitäten, und dem Altsein zwar nicht direkt entkommen, aber dem Verrückten, einfach nur Schrägen daran die eigene Verrücktheit und Schrägheit entgegensetzen.“
Man sollte diesen verrückten Roman, der die Themen Beziehung, Frauen in der Mitte ihres Lebens und die Veränderungen des Begehrens verhandelt, lesen: Frauen, Männer, Menschen, die sich als nicht binär verstehen. Miranda July schaut voller Wärme, zugleich analytisch kühl auf Rollenmuster, darauf, wie Begehren, Liebe und Sex zwischen den Geschlechtern ein Stückweit immer auch Verhandlungssache sind. Es gibt viel zu lachen, mitzufiebern, den Atem anzuhalten. Und obwohl der Roman in seiner Durchführung im letzten Drittel leise schwächelt: „Auf allen vieren“ hat das Zeug zum Kultbuch, Miranda Julys Erzählerin ist geschlechterpolitisch auf der Höhe ihrer Zeit und beweist herrlichen Humor. Konsequent ist der Roman in seinen poetischen Bildern und Volten, in seinem Pointenfeuer, seiner politischen Perspektivierung, erotischen Unverblümtheit und Tragikomik.
Miranda July Auf allen vieren Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 416 Seiten 25,00 Euro