„Euch, den Schönen, gilt mein Sinnen unveränderlich.“ Ein Abend zur Rezeption der Dichtung Sapphos (6. Februar 2024, Haus für Poesie, Berlin)

Obwohl Sapphos Werk nurmehr fragmentarisch vorliegt und es keine gesicherten Informationen zu ihrer Biografie gibt, ist die literarische und soziologische Rezeptionsgeschichte enorm. Was zumeist angenommen wird: Im 7. Jahrhundert vor unserer Zeit soll Sappho auf der griechischen Insel Lesbos gelebt haben als Lehrerin oder Leiterin eines Chors oder Kults junger Frauen, mit denen sie erotische Beziehungen gehabt haben soll. Die Literaturwissenschaftlerin Laura Untner stellte für ihre Anthologie literarischer Sappho-Rezeptionen im deutschsprachigen Raum, erschienen 2023 bei Königshausen & Neumann, einen „Ausschnitt aus der Rezeptionsgeschichte einer Ikone der Weltliteratur“ zusammen. Gespräch mit Laura Untner, Ariane von Graffenried und Odile Kennel.

Die Sehnsucht des Schriftstellers nach der Stille. Peter Härtling in Gedichten und einer Biographie (8. Januar 2024, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Die Sehnsucht des Schriftstellers nach der Stille

Bloß nicht den Wörtern auf den Leim gehen: Eine Biographie von Klaus Siblewski und ein Sammelband seiner Gedichte erinnern an Peter Härtling.

Im Jahr 2005 erschien Peter Härtlings Gedichtband „Schattenwürfe“. Ein titelloses Gedicht des Bandes beginnt so: „Die Abstände zu den Redenden nehmen zu. Ich schleppe / die Stille mit. Sie treibt zurück, was laut wird. / Der Schmerz, den ich verabscheue, hüpft mir um einen Herzschlag voraus.“ Stille und Schmerz sind in diesen Versen bestimmend. Ihr Autor, der 1933 in Chemnitz geborene Peter Härtling, konnte zum Zeitpunkt des Erscheinens der „Schattenwürfe“ auf ein umfangreiches Werk und beträchtlichen Ruhm schauen. Sein Leben als Redakteur, Lektor und Autor von Romanen, Kinderbüchern, Gedichten, das, wenn auch geprägt von Aufbrüchen, freiwilligen wie erzwungenen, Umbrüchen vor allem beruflicher Art, stellt sich heute in vielfacher Hinsicht für Außenstehende als gelungenes dar, seine Produktivität geradezu wundersam, und nur wenige, die sein Werk oder gar den Autor kannten, würden bei seinem Namen zuerst an Stille und Schmerz denken.

Eine Biographie von Klaus Siblewski, Peter Härtlings Lektor seit 1980, die nun unter dem Titel „Unterwegs sind wir alle“ vorliegt, zeigt auch die Schattenseiten, erzählt auch Stille und Schmerz. Dem manischen Schaffen Härtlings verpflichtet, orientiert sie sich nicht in erster Linie entlang der Chronologie seines Lebens, sondern ist stattdessen als „Biografie seines Schreibens, genauer gefasst: des Romanciers Peter Härtling“, angelegt.

Die Entscheidung ist stimmig in mehrfacher Weise. Schreiben war das Zentrum, um das herum Härtlings Leben gleichsam in Ringen wuchs. Schon im Alter von vierzehn Jahren stand für das Kriegs- und Flüchtlingskind fest, Schriftsteller werden zu wollen. Diesen Plan verfolgte Härtling, wenngleich es ihm, der beide Eltern früh, die Mutter im Jahr 1946 tragisch durch einen Suizid, verloren hatte, zu Beginn nicht leichtfiel. Zunächst versuchte er sich als Prosaautor, wechselte dann zur Lyrik. Einigen Anteil daran hatte, so Siblewski, Härtlings Mentor, der Maler und Bildhauer Fritz Ruoff in Nürtingen, jenem Ort, an dem sich Härtlings Familie nach der Flucht aus dem nordmährischen Olmütz und einer Zwischenstation im österreichischen Zwettl niedergelassen hatte. Ruoff, dem Härtling zunächst seine Prosa zur Lektüre anvertraut hatte, kommentierte dessen Texte nicht, oder indirekt: Er schwieg.

Dies beherzigend, dazu tief beeindruckt von Rilke-Lektüren, Gedichten von Jakob Haringer und den Liedtexten von Jacques Prévert, begann Härtling daraufhin mit dem Schreiben von Gedichten. 1953 debütierte er mit „poeme und songs“. Der gerade einmal Zwanzigjährige löste damit einige Resonanz aus, wie auch der 1955 erschienene Gedichtband „Yamins Stationen“, benannt nach einer vom Autor erdachten Kunstfigur. Doch der Wunsch, Prosa zu schreiben, ließ ihn nicht los. Mit „Im Schein des Kometen. Die Geschichte einer Opposition“ debütierte Härtling 1959 gegen einigen Widerstand seiner neuen Verlegerin Hildegard Grosche, die im Frühsommer des Jahres den Goverts-Verlag übernommen hatte – und damit auch den Vertrag für Härtlings Debütroman, dessen Autor zu dieser Zeit als Redakteur der „Deutschen Zeitung“ arbeitete. Es dauerte eine Weile, bis Grosche die Qualität ihres Autors erkannte.

Härtlings Weg in die Schriftstellerexistenz, so wird mit Siblewski deutlich, verlief nicht ohne Komplikationen, erst recht nicht ohne die Notwendigkeit, zunächst und bis zu seinem vierzigsten Geburtstag auch einem Brotberuf nachzugehen, zunächst als Redakteur der „Deutschen Zeitung“, dann des „Monats“, dann als Lektor im S.-Fischer-Verlag. Mit seiner Frau, der Arzttochter Mechthild Maier, die er in der Jugend in Nürtingen kennengelernt hatte und die ihr Studium der Psychologie abschloss und nach der Eheschließung im Jahr 1959 noch eine Zeit lang weiter in ihrer Disziplin tätig war, bekam er vier Kinder.

Die Familie siedelte sich in einem Bungalow in der von Richard Neutra geplanten Wohnsiedlung im hessischen Walldorf an, von wo aus Härtling seine aus heutiger Sicht märchenhaft anmutende Karriere als intensiv gelesener Autor der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft voller Verve ausbaute, bald bei Kiepenheuer & Witsch unter Vertrag stand und sich politisch engagierte, unter anderem im Kampf gegen den Bau der Startbahn West.

Siblewski schildert, wie Härtling mit „Niembsch“, dem Roman, der frei auf dem Leben des Dichters Nikolaus Lenau fußt, mit „Janek“ und mit „Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung“ seine Popularität ausbauen konnte. Mit dem 1974 erschienenen „Eine Frau. Die Geschichte einer zögernden Emanzipation“, das 1976 verfilmt wurde, vor allem aber mit „Hölderlin“ steigerte sich der Erfolg.

Der umfangreiche Roman, den Härtling kurz nach Erscheinen der legendären Biographie von Pierre Bertaux und dem Beginn des Erscheinens der historisch-kritischen Ausgabe des kürzlich verstorbenen D. E. Sattler veröffentlichte, trug dazu bei, das idealisierende Bild Hölderlins neu zu denken. In seiner „Annäherung“ an Hölderlin, die 1976 erschien, schlossen sich Härtlings ureigenstes Schreibverlangen, sein Geschichtsverständnis, Themen und Motive wie die Ersetzung verlorener mütterlicher Liebe durchs Schreiben aufs Günstigste an den Zeitgeist der späten Siebzigerjahre an. Der gut gealterte Roman hat bis heute zahlreiche Auflagen erfahren, allein 16 davon als Taschenbuch.

So erfolgreich, wie Härtling mit seinen Romanbiographien und Romanen war, war er auch mit seinen zahlreichen Kinderbüchern. Kaum ein westdeutsches Kind der Siebziger- und Achtzigerjahre dürfte sich nicht an so warmherzige wie offene Bücher Härtlings wie „Das war der Hirbel“ (1973) oder „Theo haut ab“ (1979) erinnern. Wenngleich etliche von ihnen auch ein wenig in die Jahre gekommen zu sein scheinen, sind andere noch immer anrührend und wiederum selbst Spiegel der aufklärerischen Strömungen ihrer Zeit, etwa „Ben liebt Anna“ (1979), das die Geschichte des zehnjährigen Benjamin Körbel erzählt, der sich schüchtern und kindlich in die deutsch-polnische Anna verliebt, deren Vater mit der Großfamilie nach Deutschland umsiedelte, um dort Arbeit zu finden.

Anregend gelingt es Siblewski, Werk und Leben Härtlings geschickt ineinanderzublenden, jedenfalls über weite Strecken. Hin und wieder wirken Passagen allerdings ein wenig redundant, worüber sich leichter hinwegsehen lässt als über das schlampige Korrektorat. Fehlerhafte Schreibweisen von Namen wie dem von Hermann Hesses Protagonisten Hans Giebenrath aus „Unterm Rad“, der hartnäckig „Griebenrath“ genannt wird, oder HAP Grieshabers als „HAB Grieshaber“, ein Verschreiber, der wirkt wie eine Ausgeburt von Autokorrektur oder KI, mindern beträchtlich ein Buch über das Leben eines Autors und Lektors aus der Feder eines Lektors.

Sie mindern so auch die Freude an dem, was Siblewskis Biographie, die man sich zudem weniger spärlich bebildert gewünscht hätte, leistet: Sie zeigt die Transformation eines Lebens, das, ziemlich exakt ausgespannt zwischen Hitlers Machtergreifung und der Vereidigung Donald Trumps, beinahe annähernd ein bewegtes Jahrhundert umschließt. Sie erzählt, wie dieses Leben mit Verve, Talent und, ja, auch günstigen Zeiten in ein Werk mündete, an dem nicht nur Umfang, Vielfalt und Erfindungsreichtum staunen machen, sondern auch die extrem hohe Sensibilität eines Autors für das Geschehen seiner Zeit, deren Denkweisen und Schmerzpunkte, vor allem aber auch für die gesellschaftliche Notwendigkeit, sich überhaupt und anders zu erinnern.

Die Erinnerung ist auch einer der zentralen Topoi der Gedichte aus Härtlings später Schaffensphase bis zu seinem Tod am 10. Juli 2017. Auch sie liegen, wie die Biographie im Zusammenhang mit Peter Härtlings 90. Geburtstag am 13. November 2023, nun in einer von Klaus Siblewski edierten Ausgabe vor, deren Kommentarteil etwas ausführlicher hätte ausfallen dürfen. Sie beginnt im Jahr 2000 und fasst sechs Einzelbände zusammen: von „Ein Balkon aus Papier“ (2000) bis „Versuchte Ewigkeit“ (2016). Dazu kommen noch Gedichte aus Büchern sowie verstreut veröffentlichte und bis dato unveröffentlichte Gedichte.

Ein klarer, wenig hermetischer Ton ist in diesen Gedichten zu hören. Man kann sie, einer Kategorisierung Siblewskis folgend, nach unterschiedlichen Weisen des Sprechens einteilen: in Gedichte, in denen ein Ich spricht, das der Leser intuitiv mit dem Autor identifiziert, in solche, die ins Allgemeine zielen und in denen ein „junger Mann“ spricht, die eher ins Märchenhafte zielen, und drittens Gedichte, die wie Traumprotokolle des lyrischen Ichs oder des Lesers aufgefasst werden können.

Es sind diese spezifischen Redeweisen im Spannungsfeld zwischen Autobiographischem und Allgemeingültigem, aus denen sich ein besonderer Ton formt, dessen Intimität und Musikalität bezwingend wirken. In der Fülle von Gedichten kehren bestimmte Motive und Topoi regelmäßig wieder. Sehnsucht nach Stille und die Zunahme des Schweigens, Zweifel des Vielschreibers an der Sprache: „Immer wieder den Wörtern / auf den Leim gegangen – / nun endlich, / satt und krank zugleich, / untergetaucht, / um sie von unten zu sehen, / ein Himmel / von faulenden Bäuchen: / Nahrung für / mein wachsendes Schweigen.“

Die kleiner werdenden Radien eines Gealterten kommen zur Sprache, und eben immer wieder die Erinnerung in und mit all ihrer Macht. „Ich bin alt und müde. Es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt“, heißt es bei Wilhelm Raabe in „Die Chronik der Sperlingsgasse“. Das könnte als ein Motto auch über Peter Härtlings späten Gedichten stehen.

Dieser Melancholie stehen Topoi, Motive und Referenzen entgegen, die in Versen aufheben, was Peter Härtlings Schreiben mutmaßlich massiv getragen hat: die Erfahrung von Verlust und Schmerz, die wachsende Liebe zu seiner Frau in einer Ehe, die, wie aus der Biographie deutlich wird, auch heftigen Anfechtungen ausgesetzt war. Die Musik, etwa von Wolfgang Amadeus Mozart, Leos Janácek, Johannes Brahms, Franz Schubert, Erik Satie, und Literatur, Gottfried Keller mit seinem „Abendlied“ und immer wieder das zerrissene Genie Hölderlin, dessen Leben und Werk Härtling auch in den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung des Romans nicht losgelassen haben.

Immer wieder ist es auch eine intensive Beschwörung einer erinnerten Kindheit, die, indem sie als erinnerte aufscheint, als verlorenes Paradies besonders leuchtet, das dennoch nicht zum Sehnsuchtsort taugt: „Von einem Kind geschrieben der Horizont, / mit Wimpeln geschmückt und leuchtenden Buchstaben. / Leicht können ihn Blicke bewegen, / herein und hinaus. / Aber dass die Töne fehlen, schmerzt.“ Immer wieder sehnt sich der hier Sprechende nach einer anderen Art eines Sprechens, und man meint, auch in dieser Sehnsucht einen Antrieb dieses Schreibenden auszumachen.

Klaus Siblewski: „Unterwegs sind wir alle“. Peter Härtling. Eine Biografie.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 368 S., geb., 28,- Euro.

Peter Härtling: „An den Ufern meiner Stadt“. Späte Gedichte.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 480 S., geb., 28,- Euro.

Willkommen auf meiner Seite!

Nach Stationen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei der Berliner Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem Neuen Tag in Weiden und der Zeitschriftenredaktion von Schott Music in Mainz, rezensiere und schreibe ich für Print (Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Freitag, Frankfurter Hefte, mare, Rheinpfalz), für ZEIT online, das Signaturen-Magazin und für den Hörfunk (DLF, SWR, WDR).

Seit 2019 bin ich Redakteurin des Kulturteils der Frankfurter Hefte.

Als Moderatorin gehöre ich zum Beraterteam des Poet:innenfests Erlangen. Regelmäßig moderiere ich im Hessischen Literaturforum, in den Literaturhäusern Frankfurt, Freiburg, Stuttgart und Wiesbaden und im Haus für Poesie, Berlin.

Ich gehörte bzw. gehöre diversen Jurys an:  der Jury zur Vergabe der Villa-Aurora-Stipendien für Literatur, Los Angeles (seit 2024), der Jury für die SWR-Bestenliste (seit 2019), für den Orphil-Preis der Stadt Wiesbaden (seit 2018), den Peter-Huchel-Preis des SWR (2019-2022), für das „Buch des Monats“ Darmstadt (seit 2020), für den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau (seit 2018), den 2019 vergebenen Gertrud-Kolmar-Preis, sowie in den Jahren 2018 und 2020 bis 2022 für den GWK-Förderpreis Literatur.

An der Justus-Liebig-Universität Gießen, am DLL, dem mediacampus, Frankfurt am Main und in der Berliner Akademie für Lyrikkritik hatte bzw. habe ich Lehraufträge für Literaturkritik und zur Gegenwartsliteratur mit einem Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Gegenwartslyrik.

Studiert habe ich in Germanistik, Anglistik und Theater- und Filmwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität und der Freien Universität Berlin. Dort habe ich mein Studium mit einer Arbeit über Paul Celans Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ abgeschlossen.

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