Was ist ein Dorf? Eine schnelle Antwort darauf haben alle parat. Dass man die Antwort auf diese Frage aber auch poetisch geben kann und dabei eine ganz überraschende Bestimmung eines Dorfs erhält, führt Hans Thill in „Neue Dörfer“ vor.
Dem Schreibenden eröffnen sich dabei vor allem Möglichkeitsräume. In der Geografie bezeichnet Dorf eine ländliche Gruppensiedlung mit einer Größe von etwa 100 Einwohnerinnen und Einwohnern und etwa 20 Höfen oder Gebäudekomplexen. Im Grimm‘schen Wörterbuch liest man: „ursprünglich hiesz es wol so viel als zusammenkunft geringer leute dann aber eine niederlassung derselben an einem solchen ort, um ackerbau zu treiben.“
Auch der Lyriker Hans Thill bezieht sich auf den Eintrag im Grimm‘schen Wörterbuch. Er verwendet das Zitat als eines mehrerer Motti. Ein Avantgardist Thills Schreiben ist dabei eng verwandt mit Literaturströmungen, die ihr Sprachmaterial besonders gern spielerisch einsetzen, die Wahrnehmungen hinterfragen, ja, auf den Kopf stellen wollen: Das kann die karnevalistische Literatur sein, die Hierarchien verkehrt. Es sind auch die französischen Surrealisten, oder die russischen Oberiuten rund um die kurzlebige Leningrader Künstlervereinigung OBERIU, kurzum: Hans Thill ist ein Avantgardist. Liest man vor diesem Hans Thill Neue Dörfer Kleine Prosa Poetenladen, Leipzig 168 Seiten 19,80 Euro Hintergrund die Erklärung des Wortes „Dorf“ aus dem Grimm noch weiter, dann bleibt die Aufmerksamkeit an einer genaueren Lokalisierung des Dorfes hängen: „auf freiem feld“ Wie das Dorf also ein Ort „auf freiem Feld ist, so ist auch jedes Stück Papier ein freies Feld. Die Wörter bilden quasi auch ein Dorf, und weil Hans Thill in den Prosaminiaturen des Bandes, die in zwei Abteilungen mit je zwölf Kapiteln versammelt sind, pro Text in etwa hundert Wörter verwendet, könnte man sagen: der Text selbst kann hier als Dorf gedacht werden.
Wie aber sieht nun so ein Thill’sches neues Dorf aus? Traumhaft, surreal, komisch, das bestimmt. Aber auch literarisch vexierend zwischen Innen und Außen. Diese Texte sind auch Felder, auf denen unterschiedliche Sprechweisen zusammenkommen. In dem Kapitel „Die klassischen Dörfer“ wird eines so beschrieben:
„Das nächste Dorf, Fachwerk, fett und schwer auf dem festen Mutterboden. Die Veronika wohnt gleich im zweiten Haus. Sie sagt die Zukunft aus einer Flasche und einem Hasenbrot. Die Tse-Tse-Fliege winzig klein, sticht sie dich, dann schläfst du ein. Es sind die Lebenden, die den Toten in den Ohren liegen. Ich verstehe immer nur Koch, Haumichkäse. Captain Kirk und seine Mannen verwandelten sich in eine Schweineherde. Wir landen bei den Dorfmücken, wir führen ein Honigprotokoll. Veronika ist jetzt müde. Wir packen den Wunsch beim Schwanz. Wir landen mit der Enterpreis auf einem Stern mit einem intelligenten See. Ubu dreht sich zur Wand, Zeit zu schlafen, Ubi UBU.“
Dem Belesenen mag gleich auffallen, wie vielfach Hans Thill hier literarische Zitate und Figuren eingeflochten hat: Monika Rincks preisgekrönter Gedichtband „Honigprotokolle“ wird zitiert. Picassos einziges Drama „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“. Und Alfred Jarrys „Roi Ubu“, der König Ubu, der von Surrealisten und Dadaisten überaus geliebt wurde und eine Galionsfigur des amimetischen Theaters der Moderne geworden ist, taucht auf. Lustvoll werden mit Captain Kirk und der Odyssee unterschiedliche historische Zeiten vernäht, denn hier verwandelt eben nicht Circe Odysseus und seine Mannen in Schweine, nein, es ist die Belegschaft aus dem „Raumschiff Enterpreis“, die hier freiwillig zu Schweinen wird.
So fungieren etliche der Dörfer als das, was einmal explizit „Kraftwerk aus Quatsch“ genannt wird. Thills Dörfer bersten vor Erfinderfreude und Sprachlust. Sie sind bisweilen Pendants zu Seelenlandschaften, bisweilen tragen sie aber auch Züge von Städten, wie etliche von denen, die unter „Die gestatteten Dörfer“ versammelt sind, da landet man schon mal unversehens im „Dorf“ namens München
„Ich sah Achternbusch im Schneider sitzen, die Augen rot wie Schattenmorellen, Noch roter die Ohren damals, die Titten der Zenzl irgendwo, die der Aphrodite. Das Dorf ist jetzt ab durch die Deko. In Schwabing schwächelte die Revolution so vor sich hin, es war Mühsamzeit“.
Und tatsächlich gibt es auch „mühselige Dörfer“, muss sich das Ich, das hier spricht und sich manchmal in ein nicht näher spezifiziertes Wir verwandelt, hin und wieder auch mit Dörfern plagen, die „der Handke sich ausgedacht“ oder aus denen „der Hamm einen FILM gemacht“ hat, wie es heißt. Doch immer sind diese phantastischen Dörfer sprachliche Zauberzentren in ihrer Musikalität, ihrer Rhythmik näher an der lyrischen Sprache, als es der Untertitel des Bandes „Kleine Prosa“ suggeriert. Sie führen vor, wie sich die Wahrnehmung bestimmter äußerer und innerer Orte eines Einzelnen kraft seiner Phantasie in individuelle Sprache übersetzen lässt. Sie sind poetische, manchmal parodistische, manchmal auch sehr private Clusterbildungen, sprachutopische Reisebeschreibungen.