Dreh dich (nicht) um (Der Freitag online)

Für den Freitag besuche ich die Frankfurter Poetikvorlesung von Christian Kracht. Nach der ersten der drei Vorlesungen habe ich erste Eindrücke und Überlegungen aufgeschrieben, leider sehr in Eile und — wie wohl alle, die am 15. Mai im Hörsaal 1 der Johann Wolfgang Goethe-Universität saßen –, adäquat auf das zu reagieren, worüber Kracht an diesem Abend sprach: über den Missbrauch, der er als Schüler des kanadischen Lakefield College erlebt hat.

Der Kontrast zwischen den allenfalls homöopathisch dosierten autobiographischen Kommentaren des Autors und diesen „Confessiones“ hätte krasser nicht ausfallen können.

Die Frage, ob es für nicht Missbrauchte überhaupt möglich ist, adäquat auf eingestandene Missbrauchserfahrungen zu reagieren, ist keine literaturwissenschaftliche, das ist ja klar. Aber ignorieren lässt sie sich nicht, auch dann nicht, wenn man, wie es einige bereits nach der ersten Vorlesung getan haben, und wie Kracht in der gestrigen zweiten Sitzung es selbst weiter befördert hat, der Erinnerung, die der Autor in der ersten Vorlesung als rückkoppelbar an reale Erfahrung geschildert hat, dann  doch wieder misstraut.

„Unschärfe“ und „Quantenverschiebung“, „Hochstapelei“ (unter Bezug auf T. S. Eliot) und „Parodie“ — mit all diesen Begriffen unterminierte Kracht gestern seine wuchtigen Missbrauchsschilderungen.

Worauf läuft das hinaus? Auf so etwas wie eine „Auflösung“ in der dritten und letzten Vorlesung am kommenden Dienstag zu hoffen, ist natürlich naiv. Dieser Autor ist schlauer als die meisten seiner Leser, auch das steht fest. Hier der Link zu meinem Online-Bericht im Freitag. (Die gröbsten Fehler darin sind nun hoffentlich auch beseitigt.)

Orphil 2018 in Wiesbaden (6.6.2018, Literaturhaus Villa Clementine, Wiesbaden)

Gründonnerstag war es, als wir, das heißt in diesem Fall Alf Mentzer, Björn Jager und ich  in schöner Runde und im klug begleitenden Beisein der Journalistin Shirin Sojitrawalla und Katharina Dietl vom Literaturhaus Wiesbaden über Lyrik diskutiert haben, weil Preise zu vergeben waren. Es war eine Herausforderung, eine Freude, Gedichte sind ein spannendes, aber eben auch herausforderndes Terrain.
Geeinigt haben wir uns schließlich und einstimmig darauf, Christoph Meckel mit dem Lyrikpreis Orphil der Landeshauptstadt Wiesbaden auszuzeichnen. Christoph Meckel wird selbst anwesend sein, wenn er am Mittwoch, 6. Juni, um 20 Uhr im Literaturhaus Villa Clementine, Frankfurter Straße 1, den mit 10.000 Euro dotierten Preis vom Wiesbadener Kulturdezernenten Axel Imholz überreicht bekommt. Den Preis sprechen wir Christoph Meckel für sein Lebenswerk und insbesondere für den 2017 erschienenen Band „Kein Anfang und kein Ende. Zwei Poeme“ (Carl Hanser Verlag) zu.

Und ich freue mich wie eine Schneekönigin darüber, dass ich diesem Autor, den ich seit 1992, dem Jahr, in dem ich zuerst eines seiner Bücher, nämlich „Licht“, gelesen habe, die Laudatio halten darf. Das ist eine ganz große Ehre!

Die Lyrikerin Sibylla Vričić Hausmann, die im Februar 2018 im Haus für Poesie mit ihrem  Gedichtband „3 Falter“ (poetenladen Verlag) vertreten war, erhält den mit 2.500 Euro dotierten Orphil-Debütpreis. Hier wird Björn Jager, der Leiter des Hessischen Literaturforums, die Lobrede halte, auf die ich schon sehr gespannt bin!

Die musikalische Umrahmung der Preisverleihung übernimmt die aus Wiesbaden stammende Baritonsaxophonistin Kira Linn. Sie wird am Klavier begleitet.

Vergeben wird der Orphil-Preis alle zwei Jahre an Lyriker oder Lyrikerinnen, die mit ihrem Werk Stellung beziehen und sich politischen wie stilistischen Moden zu widersetzen wissen. Stifterin ist Ilse Konell, die Witwe des 1991 verstorbenen und viele Jahre in Wiesbaden lebenden Dichters George Konell. Die Preisverleihung findet am 6. Juni statt.

Veranstalter ist das Kulturamt Wiesbaden in Kooperation mit hr2-kultur; moderiert wird die Veranstaltung von Alf Mentzer (hr2-kultur). Der Eintritt ist frei.

Wer sich für die Laudatio interessiert, kann mich gerne anschreiben.

Joshua Cohen: Buch der Zahlen (25.02.2018, Gutenbergs Welt, WDR3)

Wer immer dachte, „supercalifragisticexpialidocious“ sei ein langes Wort – hier wird mehr geboten! Zwar kein Adjektiv, sondern ein Substantiv, das im Wortlängencontest natürlich insofern mogelt, als man ja mit Substantiven Komposita basteln kann, die gegen Unendlich gehen. Wie auch immer.
Der 1980 geborene Joshua Cohen ist ein unglaublich geschickter Sprachbastler, der sich seinem „Buch der Zahlen“ an einer Stelle dann eben auch genau diese Besonderheit aus der deutschen Sprache herausgreift, für die ich sie besonders schätze, nämlich Komposita zu bilden. Aus Joshua Cohens „socialistcommunistworkerhousingbalconiesarefalling“ (rund fünfzig Buchstaben) wird dann in der deutschen Übersetzung von Robin Detje auf Seite 728 zu „sozialistischkommunistischearbeiterwohnstattbröckelbalkone“ (57 Buchstaben). Insa Wilke hat mich in „Gutenbergs Welt“ eingeladen. In unserem Gespräch ging es auch um die Zahl Vierzig, die in Cohens Roman auch eine wichtige Rolle spielt, wie überhaupt dieser streckenweise glanzvoll aufregende und streckenweise glanzvoll langweilige Roman auf vielen verschiedenen Ebenen das Spannungsfeld von Worten und Zahlen auslotet und sich damit auch in die Tradition jüdischer Mystik stellt.
Zur Sendung geht es hier.

Andreas Maier: Die Universität

Gretel Adorno hat mich fasziniert, seit ich die Biographie Theodor W. Adornos zuerst gelesen habe. Diese unglaublich attraktive, kluge und eigenständige Frau, die Fabrikdirektorin in Berlin, die mit Walter Benjamin ein vertrauliches Verhältnis pflegte, bevor sie sich für Theodor W. Adorno entschied, ihn im Exil begleitete und schon vor der Rückkehr des Paares nach Frankfurt für ihn zu einer intellektuellen Gefährtin geworden war, umso mehr dann in Frankfurt, vor der unglaublich produktive Adorno sich mit ihr viel über Fachliches besprach, nicht selten entscheidende Anregungen und Hinweise von ihr kamen. Nach dem plötzlichen Tod Adornos arbeitet Gretel noch entscheidend an der Fertigstellung der Druckfassung der „Ästhetischen Theorie“ mit. Dann unternahm sie einen Selbstmordversuch, wollte sich mit Brom vergiften. Doch sie überlebte, überlebte Adorno um fast 25 Jahre.
Ich wusste das, nicht viel mehr, kannte einige Fotos, den Briefwechsel zwischen ihr und Benjamin. Einige sehr einfühlsame und diskrete Bemerkungen Elisabeth Lenks gehören mit in das Mosaik, das sehr unvollständig war.
Unweit des Kettenhofwegs 123 lebend, bin ich in all den Jahren, in denen ich in Frankfurt lebe, an dem Haus vorbeigeradelt oder gelaufen. Häufig kam mir Gretel Adorno wieder in den Sinn. Wie hatte sie nach Adornos Tod und dem Selbstmordversuch gelebt? Nirgends konnte man darüber so recht etwas finden.
Umso erstaunter war ich, als ich Andreas Maiers „Die Universität“ las und darin auf ein Kapitel stieß, in dem Gretel Adorno auftaucht. Der Erzähler jobbt als studentische Kraft für einen Frankfurter Pflegedienst, zu dessen Kunden auch Adornos Witwe gehört. Sie gilt als der schwierigste Fall, eine Frau, die schon zahlreiche Pflegekräfte verschlissen hat, kratzend, beißend, schimpfend, argwöhnisch.
Der junge Erzähler in Maiers Roman, ein Student, der sich seiner Rolle vollkommen unsicher ist und wohl auch leicht autistische Züge hat, wird also mit dieser alten Dame konfrontiert.
Wie Maier die Annäherung beschreibt, die seltsamen Glücksmomente mit dieser „uralten, vergifteten und beschädigten Frau“, hat mich sehr bewegt. Gretel Adornos Wesen, ihre in allem Leid triumphale Notwendigkeit, sich aus der Erfahrung der Einsamkeit und des Scheiterns insofern zu lösen, als sie ihnen nach dem gescheitertern Selbstmordversuch in einem trotzigen „Jetzt erst recht!-Gestus“ wütend und schimpfend begegnet.
Eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Dankbarkeit breitet sich auch beim wiederholten Lesen dieser Passagen in mir aus. Es ist vollkommen gleichgültig, was nun genau faktisch und was fiktiv wäre an Maiers Schilderung, für mich ist entscheidend, dass ich durch die Lektüre von „Die Universität“ eine Lücke so gefüllt finde, wie ich es mir nie hätte wünschen können, weil einem ja immer die Phantasie dafür fehlt, wie sich eine Sehnsucht erfüllen könnte, ohne dass das Geheimnis an ihr bliebe.

Auch abgesehen davon ist „Die Universität“ ein lesenswertes Buch. Nach einem komplikationsschwangeren Interview mit Andreas Maier sitze ich nun an einer Rezension für die Bücherlese im SR. Demnächst mehr bzw. der Link zur Besprechung.

Nachtrag: Am 7. Juni 2018 haben Andreas Maier im Rahmen des Frankfurter Literaturfestivals literaturm über „Die Universität“ gesprochen, und zwar auf Initiative von Gudrun Dittmeyer vom Verein „literatouren e.V. Oberursel, in den Räumen der Kunstbühne „portstrasse“ in Oberursel.

Nach einem Unwetter in Frankfurt, zusammengebrochenem S-Bahn-Verkehr und meinen panischen Anläufen, rechtzeitig in Oberursel anzukommen, habe ich es tatäschlich geschafft, um 19.26 Uhr den Veranstaltungsraum zu betreten. Anfangs hakte es etwas, aber dann wurde ein, wie ich meine, guter Abend daraus. Maiers Bücher sind umso lesenswerter, je genauer man sie liest, wiederliest.

Lesung mit Jan Wagner (7.2.2018 in der Villa Clementine, Wiesbaden)

Nun ist es also soweit:
Im Rahmen der „Poetikdozentur: junge Autoren“ wird Jan Wagner am Mittwoch, den 7. Februar um 19.30 Uhr im Literaturhaus Villa Clementine in Wiesbaden zu Gast sein. Er liest dann aus seinem Band „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“ sowie Essays aus dem Band „Der verschlossene Raum“ vor. Die Lesung wird vom Literaturhaus in Kooperation mit der Hochschule RheinMain veranstaltet. Ich darf moderieren und freue mich schon sehr auf den Abend.
Man bereitet sich auf so einen Abend vor und sucht und findet manchmal, frei nach Gérard Genette, was man garnicht gesucht hat. Hier ein Zitat des französischen Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Gaston Bachelard aus seinem bisweilen etwas esoterischen Buch „Poetik des Raums“:

„Die Dichter verhelfen uns dazu, eine so expansive Freude am Schauen in uns zu entdecken, daß wir mitunter die von irgendeinem nahen Gegenstand die Erweiterung unseres inneren Raumes erleben. […]

Einem Objekt poetischen Raum schenken, heißt, ihm mehr Raum schenken, als er objektiv besitzen kann, oder besser gesagt: heißt der Ausweitung seines inneren Raums folgen. […]

Was könnten die Philosophen doch lernen, wenn sie die Dichter läsen!“

Diese Freude am Schauen lässt sich aus den Gedichten Jan Wagners klar herauslesen. Aber auch in seiner Prosa ist sie deutlich zu erkennen. Bei einer Lesung 2017 erzählte mir nachher eine altvertraute Freundin, die ich nicht grade als gefühlswallend kenne, sie habe bei der Lesung von Jan Wagners Reiseerzählung „Der Mann, der nach Achill wollte“ geweint. Ach, ich möchte ja nicht, dass morgen abend geweint wird, lachen wäre mir auch lieb, aber eine so spontane und unerwartete Reaktion auf einen Text, die finde ich natürlich gut. Ich bin sehr gespannt und merke, dass mich, je länger ich mich lesend und vermittelnd, in der Welt bewege, Zuschreibungen zu Gattungen, Klassifizierungen etc. immer weniger beschäftigen. Ich will wissen und mitteilen, warum bestimmte Texte (mir) so eindrucksvoll sind, und ich hoffe, dass es mir morgen ein bißchen gelingen wird.