Gretel Adorno hat mich fasziniert, seit ich die Biographie Theodor W. Adornos zuerst gelesen habe. Diese unglaublich attraktive, kluge und eigenständige Frau, die Fabrikdirektorin in Berlin, die mit Walter Benjamin ein vertrauliches Verhältnis pflegte, bevor sie sich für Theodor W. Adorno entschied, ihn im Exil begleitete und schon vor der Rückkehr des Paares nach Frankfurt für ihn zu einer intellektuellen Gefährtin geworden war, umso mehr dann in Frankfurt, vor der unglaublich produktive Adorno sich mit ihr viel über Fachliches besprach, nicht selten entscheidende Anregungen und Hinweise von ihr kamen. Nach dem plötzlichen Tod Adornos arbeitet Gretel noch entscheidend an der Fertigstellung der Druckfassung der „Ästhetischen Theorie“ mit. Dann unternahm sie einen Selbstmordversuch, wollte sich mit Brom vergiften. Doch sie überlebte, überlebte Adorno um fast 25 Jahre.
Ich wusste das, nicht viel mehr, kannte einige Fotos, den Briefwechsel zwischen ihr und Benjamin. Einige sehr einfühlsame und diskrete Bemerkungen Elisabeth Lenks gehören mit in das Mosaik, das sehr unvollständig war.
Unweit des Kettenhofwegs 123 lebend, bin ich in all den Jahren, in denen ich in Frankfurt lebe, an dem Haus vorbeigeradelt oder gelaufen. Häufig kam mir Gretel Adorno wieder in den Sinn. Wie hatte sie nach Adornos Tod und dem Selbstmordversuch gelebt? Nirgends konnte man darüber so recht etwas finden.
Umso erstaunter war ich, als ich Andreas Maiers „Die Universität“ las und darin auf ein Kapitel stieß, in dem Gretel Adorno auftaucht. Der Erzähler jobbt als studentische Kraft für einen Frankfurter Pflegedienst, zu dessen Kunden auch Adornos Witwe gehört. Sie gilt als der schwierigste Fall, eine Frau, die schon zahlreiche Pflegekräfte verschlissen hat, kratzend, beißend, schimpfend, argwöhnisch.
Der junge Erzähler in Maiers Roman, ein Student, der sich seiner Rolle vollkommen unsicher ist und wohl auch leicht autistische Züge hat, wird also mit dieser alten Dame konfrontiert.
Wie Maier die Annäherung beschreibt, die seltsamen Glücksmomente mit dieser „uralten, vergifteten und beschädigten Frau“, hat mich sehr bewegt. Gretel Adornos Wesen, ihre in allem Leid triumphale Notwendigkeit, sich aus der Erfahrung der Einsamkeit und des Scheiterns insofern zu lösen, als sie ihnen nach dem gescheitertern Selbstmordversuch in einem trotzigen „Jetzt erst recht!-Gestus“ wütend und schimpfend begegnet.
Eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Dankbarkeit breitet sich auch beim wiederholten Lesen dieser Passagen in mir aus. Es ist vollkommen gleichgültig, was nun genau faktisch und was fiktiv wäre an Maiers Schilderung, für mich ist entscheidend, dass ich durch die Lektüre von „Die Universität“ eine Lücke so gefüllt finde, wie ich es mir nie hätte wünschen können, weil einem ja immer die Phantasie dafür fehlt, wie sich eine Sehnsucht erfüllen könnte, ohne dass das Geheimnis an ihr bliebe.
Auch abgesehen davon ist „Die Universität“ ein lesenswertes Buch. Nach einem komplikationsschwangeren Interview mit Andreas Maier sitze ich nun an einer Rezension für die Bücherlese im SR. Demnächst mehr bzw. der Link zur Besprechung.
Nachtrag: Am 7. Juni 2018 haben Andreas Maier im Rahmen des Frankfurter Literaturfestivals literaturm über „Die Universität“ gesprochen, und zwar auf Initiative von Gudrun Dittmeyer vom Verein „literatouren e.V. Oberursel, in den Räumen der Kunstbühne „portstrasse“ in Oberursel.
Nach einem Unwetter in Frankfurt, zusammengebrochenem S-Bahn-Verkehr und meinen panischen Anläufen, rechtzeitig in Oberursel anzukommen, habe ich es tatäschlich geschafft, um 19.26 Uhr den Veranstaltungsraum zu betreten. Anfangs hakte es etwas, aber dann wurde ein, wie ich meine, guter Abend daraus. Maiers Bücher sind umso lesenswerter, je genauer man sie liest, wiederliest.