Thomas Kunst: Wü. (13. Mai 2024, Deutschlandfunk Büchermarkt)

Ab fünfzig denkt man öfter an den Tod

Zurück zur Lyrik: Mit „WÜ“ verbindet sich bei Thomas Kunst die panoptische und popverliebte Würdigung einer Katze mit einem eigenwilligen Blick auf das Leben, das mal widerwillig, mal leidenschaftlich gelebt werden kann.

„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ fragte 1974 der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel in einem Aufsatz. Er trat darin Theorien des Bewusstseins entgegen, die den menschlichen Geist auf gehirnphysiologische Vorgänge reduzieren wollen. Nagels Fledermaus-Argumentation besagt, dass wir nie wissen können, wie es sich beispielsweise für eine Fledermaus anfühlt, Schmerzen zu haben. Wir können es selbst dann nicht, wenn wir genau wissen, was in ihrem Gehirn im Moment der Schmerzempfindung vor sich geht. Vielleicht, so könnte man mit Nagel sagen, ist dieser Umstand Grund dafür, dass Tiere als Projektionsflächen bei Menschen so beliebt sind. Indem wir versuchen, uns in sie hineinzuversetzen, wird uns unser eigenes So-Sein und Fremdsein in besonderem Maße bewusst. Bewusst wird uns aber eben auch unsere Fähigkeit, uns in etwas hineinzudenken, auch in ein ganz besonders eigenwilliges Tier: die Katze. Wü, die dem jüngsten Gedichtband von Thomas Kunst den Titel gegeben hat, ist eine Katze, die gleichermaßen vertraut wie fremd wirkt, eine Verbündete, die man braucht, wenn man altert und vieles zurücklässt:

„Meine liebste Wü, Sonntag, elfter Dezember, gleich
Kommt Besuch, du weißt, was du zu tun hast, meine
Russische Diva, geh in mein Zimmer und verhalte dich
Ruhig, versuche, im Sessel zu schlafen, auf der Heizung

Vor dem Schreibtisch, mach dich unsichtbar, mach das, was
Du von draußen mitgebracht hast, unsichtbar,
Feldsteine und Draht, ich hoffe, dein Bewegungsfisch im Flur
Springt nicht an, durch die unsachgemäße Berührung
Eines Besuchers, nur für mich, bitte nur für mich,
meine Wü, das muss hier endlich alles bald ein Ende
Haben, wir gehen nie wieder nach Deutschland zurück“

Wü ist in diesem Gedichtband, der aus sechs Kapiteln besteht, das Zentrum einer lyrischen Familienaufstellung, in der eines der fünf Kapitel an je ein Mitglied gerichtet ist: „Mein Vater hatte früher mal einen Arbeitskollegen“, „Meine Mutter machte sich früher nichts aus Autoschlüsseln“, „Meine Schwester machte früher mal eine Ausbildung zur Eurosekretärin“, „Mein Sohn hatte früher mal eine Kassette von mir unter seinem Kopfkissen“, „Meine Tochter war früher mal eine Serienprinzessin“. Das Adverb „früher“ markiert deutlich aus welcher Perspektive das lyrische Ich oft spricht: die der Rückschau, der Erinnerung an Zeiten eines geteilten Deutschlands und der Mixtapes, an vordigitale Zeiten, in denen der Tod der Sprecherinstanz populär war. Ist von Gegenwart die Rede, erscheint sie oft als Zumutung:

„Ab fünfzig denkt man öfter an den Tod.
Die Rhythmusstörung ist kein gutes Omen.
Der Kreislauf zuckt, wir googeln nach Symptomen
Und haben noch paar Wochen ohne Not.
Das Armband mit dem Bildschirm bleibt im Haus.
Wir zählen unsere Schritte durch den Garten.
Die Apps synchronisieren Fitnessdaten.
Wie misst man richtig, und was sagt das aus.
Das Taille-Hüft-Verhältnis zu ermitteln,
Gleicht einer selten schönen Todesart.
Der Körperfettanteil ist nicht ideal.
Der Weg ins Hospital ist zu zwei Dritteln
Erforderlich, wir tragen Vivosmart.
Gesund zu leben macht uns radikal.“

Man könnte sie abtun, diese matte Weltbeleidigtheit, die mit Digitialisierung und Selbstoptimierung entschieden auf Kriegsfuß steht, die an anderer Stelle aber wild abrechnet mit, wie es heißt, „moralisch jederzeit abgesicherten Political-Correctness-Posen“, „harmlos kritischen Welt-Anrufungen“ und einer „zahnlosen, jubelnden Literaturkritik“.

Doch würde man sich so um manches bringen, was das Sprecher-Ich zu sagen hat, klug gebaut in der Form, die vom Tanka in die Suada ins Sonett und wieder zurück wechselt. Und ehrlich – Ist die Welt nicht tatsächlich unentwegt voller Hinder- und Ärgernisse? Wü befördert das Staunen darüber, wie fremd man in die Welt ein- und wieder aus ihr auszieht. Sie ist quasi die Wahlverwandte und Seelenfreundin. Und doch unterscheidet sie etwas von dem Sprecher der Gedichte: Sie leidet nicht am Wissen um die Sterblichkeit.

Übrigens ist auch viel Musik drin in diesen Gedichten. Die Playlist mit der Schreibbegleitmusik findet sich im Anhang. „

wir Hören zusammen
The Lone Gunman von Idaho, ich
Hätte nicht gedacht, dass du bei solch einer Musik
Bei mir bleibst und schlafen kannst“

Wer „The Lone Gunman“ kennt, versteht, dass Wü artgemäß eine Katze mit ausgeprägtem Faible für das musikalische Genre des Slowcore ist. Und ihr Gegenüber nicht nur ein Wort- und Weltwütender, sondern auch ein feinfühliger Melancholiker.

Nachzuhören auch hier

Dana Vowinckel: „Gewässer im Ziplock“. (18. April 2024, Literaturhaus Villa Clementine, Wiesbaden)

Die Schriftstellerin Dana Vowinckel erzählt in ihrem Roman „Gewässer im Ziplock“ über jüdisches Leben in der Gegenwart und die Suche nach Identität. Die Geschichte endet an Jom Kippur 2023, kurz vor dem schrecklichen Terrorangriff der Hamas.

Während der Vater in der Synagoge die Gebete leitet, steckt Margarita mitten in der Pubertät. Ihren Sommer verbringt sie in Chicago bei den Großeltern, dabei sehnt sie sich nach Berlin, wo all ihre Freunde sind. Doch die Wiedersehensfreude in Deutschland währt nur kurz, wenig später sitzt sie auch schon in einem Flugzeug nach Jerusalem, um dort Zeit mit ihrer entfremdeten Mutter zu verbringen. Gemeinsam reisen sie durchs Heilige Land, wo lang verkrustete Konflikte wiederaufbrechen und alte Rollen neu gedacht werden.

DANA VOWINCKEL ist Jahrgang 1996 und lebt als Autorin in Berlin. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2021 wurde sie für einen Auszug aus „Gewässer im Ziplock“ mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet, 2023 erhielt sie den Mara-Cassens-Preis. Mit dem Roman war sie 2024 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Neue Lyrik: Lisa Goldschmidt „Ursprünge“ (3. April 2024, Kunsthalle Darmstadt)

„Ursprünge“ heißt der neue Gedichtband von Lisa Goldschmidt, erschienen 2023 im Elif Verlag.

Der Titel ist programmatisch insofern, als er doch alle Tiefenschichten der Gedichte intentional erfasst: Eine Archäologie des Beginnens zu entwerfen, der Anfänge und Gründungsmythen. Dabei gehen die existenziellen „Ursprünge“ in Form einer „zweiten Geburt“ fließend über in die der Sprache und des Sprechens als einer unabdingbaren Symbolisierung des menschlichen Seins. Denn „alles verfließt, schmilzt, verschwimmt, speist sich aus quellen, deren ursprung ich verlor.“

Dass auch das Unbewusste für die Entstehung der Texte von enormer Wichtigkeit ist, spiegelt das hohe, an Psychoanalyse und Philosophie geschulte Reflexionsniveau wider, über das die Autorin verfügt. Lisa Goldschmidt, die auch Kunst und Psychologie studierte, war bis 2023 Teilnehmerin der Darmstädter Textwerkstatt.

Moderation: Beate Tröger, im Gespräch mit Kurt Drawert und der Autorin.

SWR Bestenliste (26. März 2024, Kiesel Friedrichshafen)

Literaturkritikerinnen und -kritiker: Martina Läubli, Beate Tröger und Gerrit Bartels
Moderation: Carsten Otte (SWR)

In Deutschland erscheinen ungefähr 90.000 Buchtitel pro Jahr, das sind rund 250 Titel am Tag. Eine Jury aus derzeit 30 renommierten Literaturkritikerinnen und -kritikern wählt jeden Monat zehn Bücher auf die „SWR Bestenliste“, denen sie möglichst viele Leserinnen und Leser wünscht. Während die üblichen Bestsellerlisten auf das Bekannte und Etablierte vertrauen, ist die „SWR Bestenliste“ auf der Suche nach Neuentdeckungen, nach unbekannten Autoren, für die nicht gleich der große Werbeetat eines Verlags zur Verfügung steht, die aber Aufmerksamkeit verdienen: Das garantiert monatlich immer wieder Neues, Überraschendes und Unterhaltendes.
In der Live-Aufzeichnung aus dem Kiesel im k42 in Friedrichshafen diskutieren am 26.03.24 um 19:30 die Literaturkritikerinnen und –kritiker Martina Läubli, Beate Tröger und Gerrit Bartels über die folgenden vier Bücher: „Bannmeilen“ von Anne Weber, „Zitronen“ von Valerie Fritsch, „Ich stelle mich schlafend“ von Deniz Ohde sowie „James“ von Percial Everett. Lesen werden die beiden Sprecherinnen und Sprecher Antje Keil und Johannes Wördemann. Moderiert wird die Veranstaltung vom Literaturkritiker, Schriftsteller und Rundfunkmoderator Carsten Otte vom SWR

Hier ist die SWR Bestenliste aus Friedrichshafen auch um 17:05 Uhr im SWR2 nachzuhören.