Ein schmerzhafter Prozess. Zeruya Shalevs Prosadebüt „Nicht ich“ (der Freitag, Ausgabe 4/2024)

Im Jahr 2000 erschien der Roman Liebesleben in der deutschen Übersetzung. Seine Autorin, die 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geborene Zeruya Shalev, hatte ihn 1997 im hebräischen Original veröffentlicht. Liebesleben erzählt die Geschichte der Bibelwissenschaftlerin Ja’aara, die mit einem Freund ihres Vaters eine zerstörerische Affäre beginnt, aus der sie sich schließlich befreit: durch den Rückzug in die Bibliothek, ihre wissenschaftliche Arbeit. Befördert durch den frenetischen Jubel des Literarischen Quartetts unter Marcel Reich-Ranicki, später verfilmt von Maria Schrader, wurde Liebesleben zum Longseller, der nichts von seiner düsteren Anziehungs- und Überzeugungskraft verloren hat und die Aufmerksamkeit für

https://www.freitag.de/autoren/beate-troeger/zeruya-shalevs-prosadebuet-ein-schmerzhafter-prozess

Verfestigung und Verflüchtigung. Rezension zu Uta Gosmann „Reise durchs Nimmerich“ (19. Januar 2024, Deutschlandfunk, Büchermarkt)

In drei Zyklen thematisiert Uta Gosmann in ihrem Lyrik-Debütband Landschaften, besonders die Wüste New Mexikos, und Zustände, in denen das Ich durchlässig wird – eine „Reise durchs Nimmerich“. Bedacht setzt sie ihre detailgenauen Betrachtungen. Viele Texte verwandeln Naturbetrachtungen in Seelenlandschaften.

Was haben die englische Autorin Virginia Woolf und die amerikanische Malerin Georgia O‘Keefe gemeinsam? Beider Werk ist eine Inspirationsquelle für die Gedichte der 1973 geborenen Uta Gosmann. Sie ist Lyrikerin, Übersetzerin und Psychoanalytikerin. Gosmann hat nun in der österreichischen Edition Thanhäuser ihren ersten Gedichtband vorgelegt: „Reise ins Nimmerich“, so der Titel.

Die Autorin, die seit 15 Jahren in den USA lebt, interessiert sich nicht nur als Therapeutin für Seelenzustände. Auch in ihrem Schreiben findet sie in der Natur und der Kunst Entsprechungen, die sie in konzentrierte klare Sprachbilder fasst. Immer wieder entstehen Gedichte, in denen das Ich ganz in den Erscheinungen der Natur aufgeht, in sie übergeht:

„Pusteblumen Sitzen auf dürren Stängeln und recken ihre weißen Häupter zum Mond. Die finstere Wiese ist voll von diesem konzentrierten Strecken. Andacht in der Stille der Nacht. Im Gras so verdeckt wie der Mond im Schatten der Erde. Gerafftes Reziprok von Nah und Fern. Beim nächsten Windstoß löst sich der Samen und fliegt in Richtung Stern.“

Das Nimmerich, das dem Band den Titel gibt, ist, so könnte man sagen, alles, was über die Grenzen des menschlichen Ichs hinausweist. Es ist das, was auf das menschliche Vermögen zum Wachstum deutet, etwas, das das Trennende und Beschränkende überwindet und das außerhalb seiner Selbst etwas findet, was über den Moment Bedeutung behält und vielleicht sogar bestehen bleibt.

Worte wie „Auflösung“ und „Leere“ sind zentral in diesem Gedichtband. Sie werden hier aber nicht nihilistisch interpretiert, sondern im Sinne fernöstlicher Philosophie, dass sie ein anderes Bewusstsein ermöglichen. Die Sehnsucht nach dem Beständigen im Flüchtigen gehört zum Menschsein. Verse des Gedichts „Ein einzelner Tag“ beschreiben diese Sehnsucht:

„Am Ende hat das Nebeneinander von Tag und Nacht mit der Unaushaltbarkeit der Fülle zu tun; ihr Ineinander mit dem Wunsch, dass der Moment über sich hinausweise.“

Der „Unaushaltbarkeit der Fülle“ begegnen die Gedichte von Uta Gosmann mit einem Höchstmaß an Konzentration. Es wirkt stimmig, dass bevorzugte Schauplätze der Gedichte Winter-, aber vor allem Wüstenlandschaften mit ihrem Salz und Gestein, mit ihren Farbspielen und Luftspiegelungen sind.

Auch im Gedicht „Die leere Mitte“ wird geschildert, wie der Anblick der Wüste einen meditativen Zustand herbeiführt:

„Die leere Mitte Das dürre Land der Wüste vereinfacht, was das Auge sieht, oben Himmel, unten Erde, die klare Luft wie ein mikroskopisches Glas, das sichtbar macht, was dazwischen liegen mag. Ein tiefes Seufzen, Zeichen der Erleichterung, schallt zurück vom Atalaya Berg. Bürde der Vielfalt reduziert.“

In diesem Gedicht bleibt das Auge des Betrachters schließlich an einem „gewundenen Horn eines Widders“ hängen, das „im Schatten einer Kaktee“ liegt. Das Auge, so heißt es weiter, „streift / entlang der Spirale des Gehörns / in seine leere Mitte.“

Wer die Malerei der 1887 bis 1986 lebenden Georgia O‘Keefe kennt, die sich von 1933 an regelmäßig in New Mexico aufhielt und dort in der Wüste Inspiration für ihre Bilder fand, wird in Uta Gosmanns Gedichten bezaubernde sprachliche Pendants zu diesen Wüstendarstellungen entdecken. Die beiden teilen die Vorliebe für ausgebleichte Tierschädel und Geweihe, Weite und Kargheit. O‘Keefes Malerei und Gosmanns Gedichte eint ein kühler, spröder, beträchtlicher Reiz.

Auch in der Prosa Virginia Woolfs findet Gosmann Inspirationsquellen. So heißt denn eines der Gedichte nach einem ihrer bekanntesten Texte „A room of one‘s own“.

„Es ist ein Vertrauen, die innerste Kammer zu bauen — wobei das Bauen wie ein Finden scheint.“

Es ist ein Gedicht, bei dem schon mit den ersten Versen deutlich wird, dass sich auch in ihm der fortwährende Prozess von Verfestigung und Verflüchtigung von Gedanken, von Gefühlen manifestiert. In sich zur Ruhe kommend Man hat es mit „Reise durchs Nimmerich“ mit einem Debüt zu tun, das so gar nichts Unfertiges erkennen lässt, mit einem ganz und gar überzeugenden, fein balancierten, in sich zur Ruhe kommenden Sprachkunstwerk.

https://www.deutschlandfunk.de/uta-gosmann-reise-durchs-nimmerich-dlf-994e1cf5-100.html

Ein Mann, eine Hündin und zwei Frauen. Rezension zu Bodo Kirchhoff „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ (11. Januar 2024, Deutschlandfunk Büchermarkt)

Einen „Erkunder der Liebe“ hat man den 1948 geborenen Bodo Kirchhoff genannt. Es sind die Spielarten von Liebe und Eros, die der Autor in allen Variationen in all seinen Romanen und Novellen von Beginn an durchdekliniert. Auch im neuen Roman stehen Liebe, Eros und Sehnsucht erneut im Zentrum der Handlung. Ferragosto steht bevor, der in Italien so wichtige Feiertag Mariä Himmelfahrt. Er fällt zusammen mit dem 75. Geburtstag von Louis Arthur Schongauer, der mit einer Menge quälender Erinnerungen in seinem Haus an einem der Hänge des Gardasees lebt. Seine Frau Magda, Tierfotografin, ist beim Schwimmen ertrunken. Schongauer hat sich nach diesem Tod mit der Hündin Ascha zurückgezogen.

„Seit er sein Leben mit einem Tier teilt, denkt Schongauer manchmal daran, dass er gern als dieses Tier auf die Welt gekommen wäre, nur mit dem Gedächtnis für Gut oder Ungut, Freund oder Feind und ohne Wissen um die Zeit.“

Herr und Hund, so beginnt es. Doch rasch wird die Einsamkeitszweisamkeit von der jungen Reisebloggerin Frida gestört. Sie hat sich mit ihrem Wohnmobil vor Schongauers Haus heillos verfahren und lockt Schongauer als erste aus seinen Gedanken, ehe am nächsten Tag auch die Autorin Almut Stein ankommt. Sie hat sich angemeldet, um Schongauer zu porträtieren und zu interviewen. Die männliche Askese und Einsamkeit werden, so stellt sich also heraus, bedroht von Verlockungen und Anfechtungen, insbesondere weiblicher.

Um dies zu illustrieren, fährt Kirchhoff wuchtige künstlerische und literarische Referenzen auf: Martin Schongauers „Die Versuchung des Heiligen Antonius“. Der Stich zeigt den Eremiten umgeben von grausigen Zwitter- und Frauengestalten, die Antonius zu zerreißen drohen. Der Stich ist, wie man anfangs erfährt, in der Wohnung des nachgeborenen Namensvetters Schongauer, so aufgehängt,

„dass man ihn auf dem Klo sitzend vor sich hat, dazu griffbereit das gleichnamige Buch von Flaubert, wie andere dieses Örtchen mit einem Comic bereichern“.

Flauberts Roman „Die Versuchung des Heiligen Antonius“ ist die weltliterarische Variante der Bedrängnis des Mannes durch das Weibliche: Bei Kirchhoff sind die Attacken zwar nicht unbedingt teuflischer Art, aber in der witzig gemeinten Gleichsetzung von Flaubert mit einem Comic bricht sich bereits die Art der Prätention Bahn, die in diesem Roman immer wieder aufscheint in Sätzen, die sich nur unter Ächzen ertragen lassen.

„Männer sind nur selten keine Männer mehr. So, als wären sie im Frauenkörper auf die Welt gekommen oder als zweite Geige.“

ugegeben, hier spricht die vom Arztgatten betrogene Autorin und Journalistin Almut, in die Schongauer sich im Laufe des Gesprächs verlieben wird. Sie hat eine ziemliche Wut auf Männer, sagt, sie kenne keinen Mann, für den es kein Gewinn an sich sei, nicht als Frau auf die Welt gekommen zu sein. Das passt in gewisser Weise zu Schongauers Leben ohne Frauen. Aber reden Frauen tatsächlich so?

Das zweite große Erkundungsfeld des Romans ist die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier, nach dem Wesen des Menschen als intelligibles Tier, als zoon und animal, dessen Verortung im Tierreich aber nicht hinreicht, um ihn zu beschreiben, der Mensch, der sich gelegentlich nach einer Tiernatur sehnt. Doch auch hier geht es zeitweilig zwiespältig zu, wenn der projektive Blick sich Bahn bricht, in der Hündin zu deutlich aufscheint, was doch Schongauer fehlt.

„Tausende Male war das so, ein Wedeln als Signal für alles Verlässliche, das von ihm ausgeht, in so blindem Vertrauen, dass er in dem Moment auf die Knie fiel, um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein.“

Konstruiert wirkt, dass Schongauers ertrunkene Frau Tierfotografin war, ihr Berufsleben lang ihrer Faszination für Tiere Ausdruck gab, kurz vor ihrem Tod noch ein ertrunkenes Pferd am Strand abgelichtet hat. Überhaupt die Dramaturgie: Wie wahrscheinlich ist es, dass zwei Frauen zugleich bei einem einsamen alten Schauspieler aufkreuzen? Wie nahe liegt es heute noch, eine Freiberuflerin im kostspieligen Lancia Cabrio nach Italien fahren zu lassen, um dort tagelang einen halbvergessenen Schauspieler zu befragen? Wie nachvollziehbar ist es, das Interview auf dessen Boot auf dem Gardasee zu verlagern, wo die zwei nach dem Schwimmen lediglich in Handtücher gewickelt bei Salami und Wein ihr begonnenes Gespräch fortsetzen? Wie glaubwürdig ist, dass Almuts Arztgatte Schongauers Herzschwäche durchs Telefon hören kann?

Kaum anders bestellt ist es um die Symbolik. Der Sturm, den die Figuren in Schongauers Haus erleben, zerdrückt auch das altersschwache Boot und deutet darauf hin, wie es mit Schongauers und Almuts Verliebtheit weitergeht. Sie endet. Schongauer schließt mit allem ab, wird seine Hündin der Obhut einer anderen Frau übergeben. Es hilft bei der Lektüre von „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ wenig, dass es passagenweise auf Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ anspielt. Es hilft wenig, sich zu erinnern, dass man jahrelang Bodo Kirchhoffs Bücher über die abgründigen Spielarten der Liebe neugierig und häufig auch gern mitgelesen hat. Dieser Roman ist bis in die bizarre Beschreibung von Frauensandalen hinein zwiespältig:

„Schongauer sieht auf die Füße der Stein in offenen, libellenhaften Schuhen, Füße mit Zehen wie Orgelpfeifen, die Nägel perlmutthell.“

Man kennt diese Sandalen bereits aus Kirchhoffs buchpreisgekrönter Novelle „Widerfahrnis“:

„Sie stand dort in Sandalen, die aber nichts Gesundheitliches hatten, sondern vielmehr etwas nervös Libellenhaftes.“

Wie abgedichtet gegen sich selbst spricht der Protagonist dieses Romans, irgendwann regt sich beim Lesen der Wunsch, die Frauen müssten nicht noch einmal schuld sein, in diesem Fall daran, das Erzählen des schweigenden alten Schauspielers durch ihr Auftauchen, ob nun in Turnschuhen oder libellenhaften Sandalen, wieder in Gang gesetzt zu haben.

https://www.deutschlandfunk.de/bodo-kirchhoff-seit-er-sein-leben-mit-einem-tier-teilt-dlf-47212c72-100.html

Die Sehnsucht des Schriftstellers nach der Stille. Peter Härtling in Gedichten und einer Biographie (8. Januar 2024, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Die Sehnsucht des Schriftstellers nach der Stille

Bloß nicht den Wörtern auf den Leim gehen: Eine Biographie von Klaus Siblewski und ein Sammelband seiner Gedichte erinnern an Peter Härtling.

Im Jahr 2005 erschien Peter Härtlings Gedichtband „Schattenwürfe“. Ein titelloses Gedicht des Bandes beginnt so: „Die Abstände zu den Redenden nehmen zu. Ich schleppe / die Stille mit. Sie treibt zurück, was laut wird. / Der Schmerz, den ich verabscheue, hüpft mir um einen Herzschlag voraus.“ Stille und Schmerz sind in diesen Versen bestimmend. Ihr Autor, der 1933 in Chemnitz geborene Peter Härtling, konnte zum Zeitpunkt des Erscheinens der „Schattenwürfe“ auf ein umfangreiches Werk und beträchtlichen Ruhm schauen. Sein Leben als Redakteur, Lektor und Autor von Romanen, Kinderbüchern, Gedichten, das, wenn auch geprägt von Aufbrüchen, freiwilligen wie erzwungenen, Umbrüchen vor allem beruflicher Art, stellt sich heute in vielfacher Hinsicht für Außenstehende als gelungenes dar, seine Produktivität geradezu wundersam, und nur wenige, die sein Werk oder gar den Autor kannten, würden bei seinem Namen zuerst an Stille und Schmerz denken.

Eine Biographie von Klaus Siblewski, Peter Härtlings Lektor seit 1980, die nun unter dem Titel „Unterwegs sind wir alle“ vorliegt, zeigt auch die Schattenseiten, erzählt auch Stille und Schmerz. Dem manischen Schaffen Härtlings verpflichtet, orientiert sie sich nicht in erster Linie entlang der Chronologie seines Lebens, sondern ist stattdessen als „Biografie seines Schreibens, genauer gefasst: des Romanciers Peter Härtling“, angelegt.

Die Entscheidung ist stimmig in mehrfacher Weise. Schreiben war das Zentrum, um das herum Härtlings Leben gleichsam in Ringen wuchs. Schon im Alter von vierzehn Jahren stand für das Kriegs- und Flüchtlingskind fest, Schriftsteller werden zu wollen. Diesen Plan verfolgte Härtling, wenngleich es ihm, der beide Eltern früh, die Mutter im Jahr 1946 tragisch durch einen Suizid, verloren hatte, zu Beginn nicht leichtfiel. Zunächst versuchte er sich als Prosaautor, wechselte dann zur Lyrik. Einigen Anteil daran hatte, so Siblewski, Härtlings Mentor, der Maler und Bildhauer Fritz Ruoff in Nürtingen, jenem Ort, an dem sich Härtlings Familie nach der Flucht aus dem nordmährischen Olmütz und einer Zwischenstation im österreichischen Zwettl niedergelassen hatte. Ruoff, dem Härtling zunächst seine Prosa zur Lektüre anvertraut hatte, kommentierte dessen Texte nicht, oder indirekt: Er schwieg.

Dies beherzigend, dazu tief beeindruckt von Rilke-Lektüren, Gedichten von Jakob Haringer und den Liedtexten von Jacques Prévert, begann Härtling daraufhin mit dem Schreiben von Gedichten. 1953 debütierte er mit „poeme und songs“. Der gerade einmal Zwanzigjährige löste damit einige Resonanz aus, wie auch der 1955 erschienene Gedichtband „Yamins Stationen“, benannt nach einer vom Autor erdachten Kunstfigur. Doch der Wunsch, Prosa zu schreiben, ließ ihn nicht los. Mit „Im Schein des Kometen. Die Geschichte einer Opposition“ debütierte Härtling 1959 gegen einigen Widerstand seiner neuen Verlegerin Hildegard Grosche, die im Frühsommer des Jahres den Goverts-Verlag übernommen hatte – und damit auch den Vertrag für Härtlings Debütroman, dessen Autor zu dieser Zeit als Redakteur der „Deutschen Zeitung“ arbeitete. Es dauerte eine Weile, bis Grosche die Qualität ihres Autors erkannte.

Härtlings Weg in die Schriftstellerexistenz, so wird mit Siblewski deutlich, verlief nicht ohne Komplikationen, erst recht nicht ohne die Notwendigkeit, zunächst und bis zu seinem vierzigsten Geburtstag auch einem Brotberuf nachzugehen, zunächst als Redakteur der „Deutschen Zeitung“, dann des „Monats“, dann als Lektor im S.-Fischer-Verlag. Mit seiner Frau, der Arzttochter Mechthild Maier, die er in der Jugend in Nürtingen kennengelernt hatte und die ihr Studium der Psychologie abschloss und nach der Eheschließung im Jahr 1959 noch eine Zeit lang weiter in ihrer Disziplin tätig war, bekam er vier Kinder.

Die Familie siedelte sich in einem Bungalow in der von Richard Neutra geplanten Wohnsiedlung im hessischen Walldorf an, von wo aus Härtling seine aus heutiger Sicht märchenhaft anmutende Karriere als intensiv gelesener Autor der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft voller Verve ausbaute, bald bei Kiepenheuer & Witsch unter Vertrag stand und sich politisch engagierte, unter anderem im Kampf gegen den Bau der Startbahn West.

Siblewski schildert, wie Härtling mit „Niembsch“, dem Roman, der frei auf dem Leben des Dichters Nikolaus Lenau fußt, mit „Janek“ und mit „Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung“ seine Popularität ausbauen konnte. Mit dem 1974 erschienenen „Eine Frau. Die Geschichte einer zögernden Emanzipation“, das 1976 verfilmt wurde, vor allem aber mit „Hölderlin“ steigerte sich der Erfolg.

Der umfangreiche Roman, den Härtling kurz nach Erscheinen der legendären Biographie von Pierre Bertaux und dem Beginn des Erscheinens der historisch-kritischen Ausgabe des kürzlich verstorbenen D. E. Sattler veröffentlichte, trug dazu bei, das idealisierende Bild Hölderlins neu zu denken. In seiner „Annäherung“ an Hölderlin, die 1976 erschien, schlossen sich Härtlings ureigenstes Schreibverlangen, sein Geschichtsverständnis, Themen und Motive wie die Ersetzung verlorener mütterlicher Liebe durchs Schreiben aufs Günstigste an den Zeitgeist der späten Siebzigerjahre an. Der gut gealterte Roman hat bis heute zahlreiche Auflagen erfahren, allein 16 davon als Taschenbuch.

So erfolgreich, wie Härtling mit seinen Romanbiographien und Romanen war, war er auch mit seinen zahlreichen Kinderbüchern. Kaum ein westdeutsches Kind der Siebziger- und Achtzigerjahre dürfte sich nicht an so warmherzige wie offene Bücher Härtlings wie „Das war der Hirbel“ (1973) oder „Theo haut ab“ (1979) erinnern. Wenngleich etliche von ihnen auch ein wenig in die Jahre gekommen zu sein scheinen, sind andere noch immer anrührend und wiederum selbst Spiegel der aufklärerischen Strömungen ihrer Zeit, etwa „Ben liebt Anna“ (1979), das die Geschichte des zehnjährigen Benjamin Körbel erzählt, der sich schüchtern und kindlich in die deutsch-polnische Anna verliebt, deren Vater mit der Großfamilie nach Deutschland umsiedelte, um dort Arbeit zu finden.

Anregend gelingt es Siblewski, Werk und Leben Härtlings geschickt ineinanderzublenden, jedenfalls über weite Strecken. Hin und wieder wirken Passagen allerdings ein wenig redundant, worüber sich leichter hinwegsehen lässt als über das schlampige Korrektorat. Fehlerhafte Schreibweisen von Namen wie dem von Hermann Hesses Protagonisten Hans Giebenrath aus „Unterm Rad“, der hartnäckig „Griebenrath“ genannt wird, oder HAP Grieshabers als „HAB Grieshaber“, ein Verschreiber, der wirkt wie eine Ausgeburt von Autokorrektur oder KI, mindern beträchtlich ein Buch über das Leben eines Autors und Lektors aus der Feder eines Lektors.

Sie mindern so auch die Freude an dem, was Siblewskis Biographie, die man sich zudem weniger spärlich bebildert gewünscht hätte, leistet: Sie zeigt die Transformation eines Lebens, das, ziemlich exakt ausgespannt zwischen Hitlers Machtergreifung und der Vereidigung Donald Trumps, beinahe annähernd ein bewegtes Jahrhundert umschließt. Sie erzählt, wie dieses Leben mit Verve, Talent und, ja, auch günstigen Zeiten in ein Werk mündete, an dem nicht nur Umfang, Vielfalt und Erfindungsreichtum staunen machen, sondern auch die extrem hohe Sensibilität eines Autors für das Geschehen seiner Zeit, deren Denkweisen und Schmerzpunkte, vor allem aber auch für die gesellschaftliche Notwendigkeit, sich überhaupt und anders zu erinnern.

Die Erinnerung ist auch einer der zentralen Topoi der Gedichte aus Härtlings später Schaffensphase bis zu seinem Tod am 10. Juli 2017. Auch sie liegen, wie die Biographie im Zusammenhang mit Peter Härtlings 90. Geburtstag am 13. November 2023, nun in einer von Klaus Siblewski edierten Ausgabe vor, deren Kommentarteil etwas ausführlicher hätte ausfallen dürfen. Sie beginnt im Jahr 2000 und fasst sechs Einzelbände zusammen: von „Ein Balkon aus Papier“ (2000) bis „Versuchte Ewigkeit“ (2016). Dazu kommen noch Gedichte aus Büchern sowie verstreut veröffentlichte und bis dato unveröffentlichte Gedichte.

Ein klarer, wenig hermetischer Ton ist in diesen Gedichten zu hören. Man kann sie, einer Kategorisierung Siblewskis folgend, nach unterschiedlichen Weisen des Sprechens einteilen: in Gedichte, in denen ein Ich spricht, das der Leser intuitiv mit dem Autor identifiziert, in solche, die ins Allgemeine zielen und in denen ein „junger Mann“ spricht, die eher ins Märchenhafte zielen, und drittens Gedichte, die wie Traumprotokolle des lyrischen Ichs oder des Lesers aufgefasst werden können.

Es sind diese spezifischen Redeweisen im Spannungsfeld zwischen Autobiographischem und Allgemeingültigem, aus denen sich ein besonderer Ton formt, dessen Intimität und Musikalität bezwingend wirken. In der Fülle von Gedichten kehren bestimmte Motive und Topoi regelmäßig wieder. Sehnsucht nach Stille und die Zunahme des Schweigens, Zweifel des Vielschreibers an der Sprache: „Immer wieder den Wörtern / auf den Leim gegangen – / nun endlich, / satt und krank zugleich, / untergetaucht, / um sie von unten zu sehen, / ein Himmel / von faulenden Bäuchen: / Nahrung für / mein wachsendes Schweigen.“

Die kleiner werdenden Radien eines Gealterten kommen zur Sprache, und eben immer wieder die Erinnerung in und mit all ihrer Macht. „Ich bin alt und müde. Es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt“, heißt es bei Wilhelm Raabe in „Die Chronik der Sperlingsgasse“. Das könnte als ein Motto auch über Peter Härtlings späten Gedichten stehen.

Dieser Melancholie stehen Topoi, Motive und Referenzen entgegen, die in Versen aufheben, was Peter Härtlings Schreiben mutmaßlich massiv getragen hat: die Erfahrung von Verlust und Schmerz, die wachsende Liebe zu seiner Frau in einer Ehe, die, wie aus der Biographie deutlich wird, auch heftigen Anfechtungen ausgesetzt war. Die Musik, etwa von Wolfgang Amadeus Mozart, Leos Janácek, Johannes Brahms, Franz Schubert, Erik Satie, und Literatur, Gottfried Keller mit seinem „Abendlied“ und immer wieder das zerrissene Genie Hölderlin, dessen Leben und Werk Härtling auch in den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung des Romans nicht losgelassen haben.

Immer wieder ist es auch eine intensive Beschwörung einer erinnerten Kindheit, die, indem sie als erinnerte aufscheint, als verlorenes Paradies besonders leuchtet, das dennoch nicht zum Sehnsuchtsort taugt: „Von einem Kind geschrieben der Horizont, / mit Wimpeln geschmückt und leuchtenden Buchstaben. / Leicht können ihn Blicke bewegen, / herein und hinaus. / Aber dass die Töne fehlen, schmerzt.“ Immer wieder sehnt sich der hier Sprechende nach einer anderen Art eines Sprechens, und man meint, auch in dieser Sehnsucht einen Antrieb dieses Schreibenden auszumachen.

Klaus Siblewski: „Unterwegs sind wir alle“. Peter Härtling. Eine Biografie.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 368 S., geb., 28,- Euro.

Peter Härtling: „An den Ufern meiner Stadt“. Späte Gedichte.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 480 S., geb., 28,- Euro.

Im Namen der Anima. Rezension zu Marion Poschmann „Chor der Erinnyen“ (2. Januar 2024, Deutschlandfunk, Büchermarkt)

Mathilda, Birte und Olivia kennen sich seit Schulzeiten. Jetzt treffen sie in einer Jagdhütte im Wald wieder zusammen. Und es geschehen seltsame Dinge, bei denen sich die Erscheinungen in der Natur und persönliche Erfahrungen mit Mathildas Visionen und Tagebuchaufzeichnungen vermischen. Was liegt diesem eigenartigen Geschehen zugrunde? Ein wildes Motto hat Marion Poschmann ihrem neuen Roman vorangestellt. Es ist ein Zitat aus dem berühmten Gedicht „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff. „Und darf nur heimlich lösen mein Haar, Und lassen es flattern im Winde!“ Drostes Gedicht beschreibt die Sehnsucht seiner Sprecherin, die, „gleich einem artigen Kinde“ an ihre Rolle als domestizierte Frau gebunden, aus dieser auszuscheren versucht.

Eine gezähmte Frau ist auch Mathilda, Lehrerin und Hauptfigur von „Chor der Erinnyen“. Ihr Mann hat sie gerade unvermittelt verlassen. Er ist, wie man aus Poschmanns vorangegangenem Roman „Die Kieferninseln“ weiß, unterwegs in Japan. Ihre Mutter, eine strenge Frau, hält Mathilda noch immer unter ihrer Fuchtel. Während Mathilda weiter ihrem genau geregelten Leben im wohlgestalteten Ambiente nachgeht und das Verschwinden ihres Mannes verschleiern möchte, geschehen um sie herum merkwürdige Dinge. Manche haben mit ihrem Schreiben, ihrer Schrift zu tun:

„Sie begann mit einem ersten Gewölle, ließ sich Zeit mit den Linien, schlang sie sorgsam übereinander, immer dichter.“

Das Schreiben als Versuch, Bedeutung herzustellen, ist der Lehrerin vertraut. Sie schreibt in der Klasse Ziffern und Wurzeln, Noten, Bass- und Violinschlüssel ebenso an die Tafel schreibt, Integrale, Graphen und Parabeln. Sie verirrt sich aber, wenn es darum geht, in ihrer Handschrift verobjektivierbare Zeichen in die Kladde zu schreiben. Die Kringel und Krakel wirken wie das ausgespiene, unverdauliche Gewölle einer Eule. Mathildas Inneres verirrt sich quasi auf dem Weg in die Welt. Doch nicht nur Mathildas Schrift entzieht sich der Bedeutung, löst sich auf. Tassen fallen zu Boden, ein Wald beginnt zu brennen. Die Natur gerät in Aufruhr. Gegen Ende des Romans zieht ein furioser Sturm auf:

„Erst jetzt hörte sie einen ohrenbetäubenden Wind, ein auftrumpfend machtvolles Wehen, Sturmesgewalt. Sie ging ein langgezogenes Brombeergebüsch entlang, es wehte stetig an diesem Gebüsch vorüber, die Brombeerzweige schwankten, ein einzelnes rotes Ahornblatt taumelte vor ihr her.“

Und während Mathilda in den Sturm hineingeht, verwandelt sich das Blatt:

„Jetzt vermehrte es sich zu einer Laubwolke, rot, rot, rot, rot, sie sah gefächerte Schirme vor sich, Baldachine, Blätterdächer, sie sah sich selbst, wie sie durch diese Blätterwolken schritt, langsam mit Würde, der Macht des Alleinseins durch rote, blutrote Wolken von der Farbe innerer Organe, es war ein Zustand, an den sie sich jetzt plötzlich wieder erinnern konnte.“

Das „Wandeln des Blattes“ im Sturm gleicht dem Ausbrechen aus dem System einer begrifflichen Schrift. Die merkwürdige Korrespondenz zwischen Mathildas innerem Erleben und einer entfesselten Natur führen ins Epizentrum dieses anspielungsreichen und extrem dicht gebauten Romans mit seinen Episoden, Nebensträngen, Verweisen. Auf der Bühne der Natur kann geschehen, was Mathilda verdrängt, unterdrückt, beherrscht und kleinhält – und kleinzuhalten gelernt hat.

„Chor der Erinnyen“ erzählt davon, wie in der Geschichte des Abendlands, vor allem aber seit der Aufklärung das zurückgedrängt worden ist, was bei dem Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung Anima genannt wird. Jung unterschied in seiner Beschreibung der menschlichen Seele die Archetypen Animus und Anima. Während der Animus für die männliche Natur steht, für Geist und Gedächtnis, steht Anima für Wind, Atem und Seele. Jung sieht in jedem Menschen beide Anteile angelegt, beide Anteile können gute und schlechte Wirkungen entfalten.

Keineswegs geht es in „Chor der Erinnyen“ um eine simplifizierende Darstellung der Geschlechterverhältnisse nach dem Motto „Böse Männer – Arme Frauen“. Die Frage, um die sich der Roman weitaus stärker, zeitweise amüsant, dann wieder verstörend, aber immer stupend klug und motivisch dicht verwoben verdient macht, lautet eben nicht: Wie wurden und werden Frauen benachteiligt? Sie lautet dagegen: Wie ließe sich anders vermitteln zwischen männlichem und weiblichem Prinzip, das nicht zwingend an ein biologisches Geschlecht gekoppelt ist? Wie ließe sich anders vermitteln zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Lustgewinn und Triebverzicht, wie sich anders sprechen über das, was in der Geschichte des Abendlandes dem Animus zum Opfer gefallen ist?

Nach der Lektüre ist auch das Motto des Romans präziser deutbar, in dem das Wort „heimlich“ fällt: „Chor der Erinnyen“ fragt von vielen Seiten aus nach dem Unheimlichen in all seinen Gestalten, nach dem offen Ungeordneten. Es geht zuvorderst von Mathilda aus, aber auch von ihren beiden Freundinnen Birte und Olivia, mit denen Mathilda, den Hexen in Shakespeares Macbeth vergleichbar, im Wald zusammenkommt. Das Unheimliche wird von drei Wesen verkörpert, ist und bleibt in der Welt. Es manifestiert sich im Roman am ausdrücklichsten in dessen chorischen Passagen, in denen die Erinnyen, die drei antiken Rachegöttinnen, das Geschehen kommentieren. Wie „Chor der Erinnyen“ das Unheimliche als Ausdruck von gestörten Balancen in seinen äußeren und inneren Ausformungen beschreibt, ist meisterhaft. Einmal mehr zeugt der Roman vom Ausnahmekönnen seiner Autorin.

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