Annie Ernaux, Didier Eribon und Fragen des autobiographischen Schreibens

Es sah in diesem Herbst eine Weile so aus, als fände sich unter den Neuerscheinungen, die ich (an-)gelesen habe, kein Buch, das mir beim Lesen den Eindruck machte, es sei eines jener, auf die ich gewartet habe, ohne es zu wissen. Jetzt bin ich doch fündig geworden:
Mich erinnernd an meine ziemlich atemlose Lektüre von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, die ich einer Sommergrippe 2016 verdanke, fand vor vierzehn Tagen in meiner allerliebsten Karl-Marx-Buchhandlung in der Jordanstraße Annie Ernaux „Die Jahre“ (frz. „Les années, 2008). Eribon bezieht sich sehr deutlich auf Ernaux, insbesondere auf dieses Buch, das Sonja Finck nun für den Suhrkamp Verlag übersetzt hat. Ich habe das Buch in einem Rutsch und gelesen und die anstehende Arbeit dafür liegen lassen. Seitdem bewegt mich der Text, fasziniert mich die Autorin, ihr Stil, möchte ich mehr wissen über ihre Geschichte als individuelle …
… und als kollektive. Denn genau darum ist es der Autorin in „Die Jahre“ zu tun: ihre Geschichte als Geschichte einer Frau in einer ganz bestimmten Zeit und ihren Wandlungen zu vollziehen.
Ernaux, die am 1. September 1940 als Tochter eines Wirtes und Landenbesitzers im Norden Frankreichs geboren wurde, wuchs in einfachen Verhältnissen auf und entfernte sich durch ihr Studium und ihren Beruf als Lehrerin von ihrem Herkunftsmilieu. In „La Place“ (dt. „Das bessere Leben“) erzählt — wie übrigens auch Eribon — ausgehend vom Tod des Vaters die Geschichte ihres Vaters losgelöst zu ihrem eigenen Verhältnis zu ihm.
Spannend war heute, im Lesen von „Das bessere Leben“, an dem Ernaux von November 1982 bis Juni 1983 geschrieben hat, zu sehen, wie viel von dem, was in „Die Jahre“ formal, aber auch inhaltlich zentral ist, schon angelegt ist. Dadurch wird mit Ernaux‘ Aussage, sie hätte „Die Jahre“ ohne die vorangegangenen Bücher niemals schreiben können, viel plausibler. Gerne möchte ich das noch genauer wissen, leider ist bislang noch viel zu wenig ins Deutsche übersetzt.
Spannend war und ist auch zu sehen, wie stark sich Eribon tatsächlich auf das Verfahren von „Die Jahre“ bezieht, wie er, gleich Ernaux, anhand von Fotos das Kollektive an der indivuellen Erfahrung betrachtend abzulesen sich anschickt. Ich bin auch schon extrem gespannt auf „Gesellschaft als Urteil“, das, wie „Die Jahre“ ein Buch über ein Buch ist, in diesem Fall über „Rückkehr nach Reims“ und dessen Erfolg.
Noch bin ich aber bei Ernaux, bei „Die Jahre“, das in seinem Versuch über das Betrachten von Fotos, über Erinnerungen an Tischgespräche bei Familienessen und über Schilderungen gesellschaftlicher Prozesse und unter Vermeidung des Wortes „Ich“ eine atmosphärische Dichte zu erzeugen vermag, die mich schier überwältigt hat, gerade weil die Analyse dadurch etwas Distanziertes behält, zugleich entlarvend und diskret anmutet.
Mittendrin in der Recherche, gespannt auf neue Erkenntnisse, Querverbindungen, weiß ich bereits jetzt, dass ich hier ein Buch gelesen habe, dessen Eindruck weit über eine Saison hinausreichen wird, ein Buch zum Immer-Wieder-Lesen, Diskutieren, Verschenken. („Wie hoffen geht, weißt du.“ — Peter Kurzeck)

Krass ist übrigens, wie Ernaux‘  frühere ins Deutsche übersetzte Romane inszeniert sind: Frauen in Dessous, Sex sells, bei Genet wäre niemand drauf gekommen, den Männern auf dem Cover die Köpfe abzuschneiden, aber nun gut, wir wollen hoffen, dass die Zeiten, in denen man literarisches Nachdenken über weibliche Sexualität und Begehren ästhetisch der Gestaltung von abstoßenden Bierreklamen gleichstellt, bald mal vorbei sein werden. (Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. )

 

 

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