„Flügelschlag des Schmetterlings.“ Über die Ausstellung Alexander Calder – Pablo Picasso im Musée Picasso in Paris (Frankfurter Hefte, September 2019)

Den August 2017 habe ich in Berlin verbracht und von dort aus die Ausstellung „Von Hopper bis Rothko. Amerikas Weg in die Moderne“ im Museum Barberini besucht. Damals blieb ich „hängen“ an einer Arbeit von Alexander Calder, dessen Werk mir bis dato kaum bekannt gewesen war. „Rote Polygone“, entstanden um 1950, faszinierte mich in einer zunächst nicht näher bestimmbaren Weise so sehr, dass ich gegen Ende der Ausstellung noch einmal in den ersten oder zweiten Ausstellungsraum zurücklief und mich zu fragen begann, was genau mich daran so bewegte. Daraus wurde eine längere Recherche, die im Besuch einer Ausstellung in Paris im Juli 2019 gipfelte — Melbourne, wo 2019 eine große Calder-Einzelausstellung gezeigt wurde, war dann doch zu weit –, aus der dann wiederum dieser Artikel für die Frankfurter Hefte entstanden ist.

Peter Kurzeck „Der vorige Sommer und der Sommer davor“ und „Als Gast“ (25. August 2019, SWR2, lesenswert)

Für den SWR habe ich Peter Kurzecks Nachlassroman im Zusammenhang mit der Neuauflage von „Als Gast“ besprochen, es ist weniger eine Einzelbesprechung als eine Mischung aus Rezension und Porträt dieses Autors, der für mich wie kein zweiter meinen Blick auf Frankfurt geprägt hat, dessen Romane mich regelrecht dazu gezwungen haben, diese Stadt genauer anzuschauen, in die ich im Oktober 2000 mit dem Vorsatz gekommen bin, für ein Jahr zu bleiben. Das ist jetzt 19 Jahre her. Man lese einmal Kurzeck und gehe danach probeweise durch Frankfurt. Man wird die Stadt dann lieber mögen, schöner verabscheuen, es besser in ihr aushalten, wie sie es umgekehrt zwar ohne ihn aushält, aber auch Frankfurt täte es besser, wenn Kurzeck noch scharf und milde darauf schaute und das Gesehene aufschriebe. Er fehlt.
Zu meinem Beitrag geht es hier.

„Untröstliche Kröten“. Über Peter Kurzecks „Der vorige Sommer und der Sommer davor (August 2019, der FREITAG,)

„Wenn Hölderlin den schönsten Ton deutschsprachiger Poesie hat, dann stehen diese Prosa-Seiten, was Tonschönheit und Verzauberung angeht, auf einer Höhe mit ihm. Unfassbare Prosa“ schreibt Andreas Maier über Peter Kurzecks Werk im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Kurzecks Roman „Der vorige Sommer und der Sommer davor“. So etwas hätte ich mich wohl nicht zu schreiben getraut. Aber zustimmen will ich unbedingt. Hier meine Rezension des Nachlassromans eines der größten Autoren der Nachkriegsmoderne.

Akustische Agora. Zur Zukunft des Kulturradios

In der Antike war die Agora der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt, eine Institution und entscheidend, wenn es darum ging, die gemeinsame Identität zu stärken. Religiöse Feste wurden dort gefeiert, Volks- und Gerichtsversammlungen abgehalten.

Wenn ich Radiosender mit Wortprogrammen ansteuere, komme es mit immer ein wenig so vor, als würde ich mich auf die Agora begeben, dann weiß ich, dass ich Zeugin von Gesprächen, Ritualen, „Festen“ werde, dass ich sie mitverfolgen, mitfeiern kann. Das Programmschema der von mir angesteuerten Sender ist mir vertraut, ich brauche dafür kein Programmheft.

Wer aber den Raum aufgibt, der die Möglichkeit zu zeitlich fest fixierten, sich periodisch wiederholenden Gesprächen, Ritualen, Festen zuverlässig einzufinden, gibt die Agora auf: Die Zuverlässigkeit im Zeitlichen aufzugeben, bedeutet, auch die Zuverlässigkeit im Räumlichen zu verraten, man schleift die Gebäude, die einst die Agora definierten, sie zu dem machen, was sie ist.

Wenn die Agora abgeschafft ist, gibt es keinen Ort mehr, um sich spontan und zuverlässig zugleich zu versammeln, keinen Ort mehr, an dem sich alle Kulturinteressierten, deren Alter mir übrigens völlig egal ist, zuverlässig akustisch derart verbinden können, dass sie sich nicht einsam wissen. Immer ist da eine Stimme, die einem Vernunft zutraut, die einem die Fähigkeit zur Schönheit zutraut. Immer kann man sich vorstellen, dass jemand mithört.

Ich möchte dieses Bild vor Augen haben, wenn ich das Radio bewusst einschalte, es ist ein Bild, das mir niemals in den Sinn käme, wenn ich einen Wikipedia-Eintrag lese oder einen Podcast herunterlade. Ich möchte beim Hören einer Rezension, einer Diskussion, einer Reportage nicht vor Augen haben, was ich immer vor meinem inneren Auge sehe, wenn mir dabei ein Chorsatz aus Händels „The Messiah“ einfällt. Händel komponiert Verse aus Jesaja “All we like sheep have gone astray; we have turned every one to his own way” derart aus, dass es mir bei dem Gewirr der Noten jedesmal fast das Herz bricht, wenn mir das hektische Durcheinander hörend quasi sichtbar wird, ich die stolpernden, richtungslosen Schafe herumirren sehe.

“Every one to his own way” – es ist der blanke Horror, sich vorzustellen, dass Adjektive wie „zukunftsfähig“ und „zeitunabhängig“ darüber hinwegtäuschen sollen, dass aufgrund schnöder Sparpläne mutmaßlich hochbezahlter Controller die Agora aufgegeben werden soll. Es mag verirrten zupaß kommen, wenn sie nurmehr durch „niedrigschwelliges“ Gelände stolpern, es würde ihnen aber vielleicht gefallen. Ich wünsche mir freie, aber gerichtete Wege, als einzelnes aufrecht gehendes Wesen, das von Zeit zu Zeit die Gesellschaft derer sucht und findet, die  gleichermaßen frei und in eine bestimmte Richtung gehen.

Ungefähr so habe ich mir auch immer das telos dessen vorgestellt, was sich hinter dem sperrigen Wort „Bildungsauftrag“ verbirgt, sein Ziel ist Freiheit, nicht Richtungslosigkeit, Autonomie, die sich der Verbindung und des Verbindlichen nicht zu schämen braucht. Einer der Orte, wo ich mich zuverlässig in genau diesen Zustand versetzen konnte, war die akustische Agora der öffentlich-rechtlichen Kulturwellen. Wer diese Orte auch im Sinne eines verlässlichen Rhythmus aufgibt, begeht Verrat an diesen Idealen.