Rezension neuer Gedichtbände von Nico Bleutge, Tom Schulze, Steffen Popp und Paul-Henri Campbell (Der Freitag)

Unter den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse war auch in diesem Jahr wieder ein Gedichtband. Es hat dann zwar nicht für den Preis gelangt, aber mit Steffen Popps Band 118 wurde eine avantgardistische lyrische Stimme in die Auswahl aufgenommen – eine mutige Entscheidung. Steffen Popp bekennt sich im Sammelband Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs zur Poesie als Lebensform. Mit Reminiszenzen im neuen Gedichtband an den „Mond“ oder an Novalis, aber eben auch durch seine Weigerung, Leben und Schreiben strikt zu trennen, schreibt Popp am Projekt der romantischen Universalpoesie weiter, gleichsam poststruktralistisch auf den neuesten Stand gebracht. Weiterlesen!

Shakespeare reloaded (Frankfurter Hefte)

Im Januar starb mit David Bowie einer der originellsten, kreativsten und visionärsten Popmusiker unserer Zeit. Bowie erfand sich als Künstler und Musiker immer wieder neu und interessierte sich brennend für Innovationen, deren Zukunftsfähigkeit er früh begriff: »Es gibt eine Menge hellsichtige Sätze, die beweisen, wie weit Bowie seiner Zeit voraus war. Die Musik selbst, sagte er 2002, werde ähnlich omnipräsent sein wie fließendes Wasser oder Elektrizität«, schreibt dazu Michael Moorstedt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Januar 2016 unter dem Titel »David Bowie als Internet-Prophet«. Damit nahm Bowie, so folgert Moorstedt, Streaming-Portale wie Spotify vorweg. Er erschuf in seinen Bühnenshows und Alben visionäre Wesen, die zu Ikonen geworden sind, und viele Sentenzen aus seinen Songs wurden zu geflügelten Worten, so etwa »I will be King. /And you, you will be Queen« in Heroes.
In Space Oddity auf dem gleichnamigen Album von 1969 lässt Bowie im Titellied die Figur des Major Tom sprechen, der im All unterwegs ist:
»Here am I sitting in a tin can /
Far above the world /
Planet earth is blue /
And there’s nothing I can do«.
Nicht nur eingefleischte Bowie-Fans haben über diese enigmatischen Zeilen gerätselt, sie auf Bowies zeitweilige Heroinsucht bezogen, gestützt durch eine spätere Verszeile: »We know Major Tom’s a junkie« aus Ashes to ashes.
Faszinierend daran ist, mit welcher Selbstverständlichkeit es dem Künstler Bowie in Space Oddity gelingt, zwei einschneidende Menschheitserfahrungen zu poetisieren: die bemannte Raumfahrt und die Mondlandung durch Neil Armstrong und Edwin Aldrin am 21. Juli 1969. Bowies Transformation der technischen Errungenschaft in Poesie bringt einen Songtext hervor, der die beängstigende wie triumphale Ausgesetztheit des Menschen im All in vieldeutige Verse fasst, die ersichtlich daran wird, dass das englische Wort »blue« auch die Bedeutung »traurig« hat, wodurch die Songzeile gewissermaßen eine Einsicht in die Dialektik der Aufklärung mittranspor-
tiert.

Die Gier auf alles Neue, die sich auch in seiner Kunst niederschlag, rückt David
Bowie in die Nähe eines weiteren großen Engländers, William Shakespeare, der im April 1616, also fast 400 Jahre vor Bowie, starb. Lesen!

Rezension „Frische Gedichte“ von F. W. Bernstein (Der Freitag)

E s soll 1963 passiert sein, auf einer Autofahrt mit Robert Gernhardt. F. W. Bernstein dichtete: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ Was Versen sonst selten blüht, geschah, der Vers wurde zum legendären Sprichwort. Bernstein, 1938 in Göppingen geboren, ist das letzte noch lebende Mitglied der sogenannten Neuen Frankfurter Schule, die in den 1960ern aus der Redaktion der Satirezeitschrift Pardon hervorging. Der Vers, der zum Namensgeber für einen Satirepreis, den Göttinger Elch, oder linke Etablissements wie den Elchkeller der Hannoveraner Universität wurde, der es in Todesanzeigen schaffte und in die Bild, lässt sich aber ohne die berühmte Karikatur dazu kaum denken. Hans Traxler hatte Elche gezeichnet, gehüllt in graue Mäntel, auf den Köpfen breitkrempige Hüte, aus denen in knalligen Farben die Geweihe der Elche hervorragen. Weiterlesen!

Zur Darstellung der „Provinz“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Frankfurter Hefte)

Das Wort „Provinz“ wird häufig abwertend gebraucht. Darüber sollte mansich gründlicher nachdenken . Wer herablassend auf die Provinz blickt, verallgemeinert vorschnell, was zu weitreichenden Konsequenzen führen kann„Die Rache der Dörfer“, von der kürzlich in einem Beitrag im Deutschlandfunk mit Blick auf Donald Trumps Wahlsieg die Rede war, der hierin als „kulturelle Konfrontation zwischen dem Land und den Städten“ gedeutet wurde, darf nicht weiter geschürt werden. Der Ethnologe Wolfgang Kaschuba konstatierte in dem Radiobeitrag eine „kulturelle Konfrontation zwischen dem Land und den Städten“ und stellte fest: „Wir waren bisher der Meinung, dass die Vorstellung einer liberalen, einer offenen Stadtgesellschaft so etwas wie Konsens wäre, und jetzt bemerken wir, dass offenbar für größere soziale Gruppen die Vorstellung von großer Vielfalt, von großer Freiheit, von vielen Entscheidungsmöglichkeiten im Alltag, aber auch viel Verhandlungen möglicherweise eben auch eine stressige Vorstellung ist.“

Wie ländliche Räume im deutschsprachigen Roman der Gegenwart dargestellt sind werden, soll im Folgenden an vier Beispielen mit Fokus auf die Darstellung des technischen Fortschritts betrachtet werden. Lesen!

Rezension „Sphinx“ von Anne Garréta (Der Freitag)

Es gibt Bücher, über die man dringend diskutieren möchte, die einen intensiven Nachhall erzeugen. Sphinx von Anne Garréta zählt in diesem Jahr zu diesen Büchern, wie sonst noch Didier Eribons autobiografisch-soziologische Reflexion Rückkehr nach Reims. Der Roman der 1962 geborenen Garréta, der bereits 1986 im französischen Original erschien, ist eine Liebesgeschichte aus dem Pariser Nachtleben der 80er Jahre. Er beginnt wie ein Bildungsroman. Die Hauptfigur, ein/e Theologiestudent/in, ist auf einer Sinnsuche, durch von Stroboskoplicht und Beats durchzuckte Diskotheken, durch die Cabarets und Stripteaselokale der Stadt. Das faszinierend Beunruhigende an Sphinx ist seine formale Besonderheit. Anne Garréta schreibt der jungen Erzählfigur kein grammatisches Geschlecht zu, sie lässt auch das Geschlecht des begehrten Objekts offen, ein Kunstgriff der Oulipoten, jener Autorengruppe, die durch formale Zwänge die Sprache zu erweitern versucht. Weiterlesen!