Porträt Kerstin Preiwuß (Literaturblatt Baden-Württemberg)

Vor Jahren habe ich für den Freitag den zweiten Gedichtband von Kerstin Preiwuß besprochen, seitdem verfolge ich die Veröffentlichung Ihrer Gedichtbände und Romane. Mit „Nach Onkalo“ stand Preiwuß auf der diesjährigen Longlist zum Deutschen Buchpreis, und ich muss sagen, ich hätte es berechtigt gefunden, sie auch auf die Shortlist zu nehmen. Es geht mit dabei nicht um die Platzierung auf einer ja immer in gewisser Weise willkürlichen und subjektiven Liste, sondern darum, die Aufmerksamkeit auf eine Autorin zu richten, deren Umgang mit Sprache, deren Charakterisierung ihrer Figuren weit aus dem herausragen, was derzeit als Belletristik mit Anspruch gehandelt wird. Preiwuß‘ Sprache reflektiert sich im Moment des Vollzugs in ungewohnter und eindrucksvoller Weise.
Für das Literaturblatt Baden-Württemberg habe ich einen Artikel über Preiwuß‘ bis dato erschienene Roman- und Gedichtbände geschrieben, nachzulesen ist es hier.

Tiefsinniges Tischgespräch, zufällig mitgehört.

Freitagmittag, in der Bahnkantine, Hauptbahnhof Frankfurt am Main

Sie sind zu dritt. Wie aus ihrem Gespräch hervorgeht, sind sie Lokführer, alle so an die Sechzig, sie sehen handfest aus, tragen Dienstuniformen und haben ihre Arbeitsrucksäcke bei sich.
Sie teilen sich drei aneinander gereihte, tresenartige Kantinentische.
Sprecher 1 und 2 sitzen sich an Tisch 1 und 2 schräg gegenüber. Sprecher 3, mit Akzent, der ostdeutsche Herkunft vermuten lässt, mit gelocktem, angegrautem Vokuhila, Vollbart und eckiger Brille mit selbsttönenden Gläsern, sitzt am äußersten Rand des dritten Tisches, so dass sie SEHR laut miteinander reden müssen, um sich zu verständigen.
Freitag ist Fischtag. Also essen sie Fisch, die drei. Den Freitagskantinen-Klassiker: paniert, mit Kartoffelsalat in Essig-Öl-Marinade und Joghurt-Dip. Zitronenscheibchen gibt’s nach Wahl dazu. Das Gericht läuft  unter der Rubrik „Job & Fit“ (was eine gewisse Rolle für seine Zubereitung gespielt hat, wie wir noch erfahren werden):

Sprecher 1 (kaut und schluckt ein Stück Fisch): „Wie Moltofill schmeckt das in der Mitte, wie Moltofill!“

Sprecher 2: „Es liegt daran, dass sie das Zeug im Dampfgarer zubereiten. Damit es gesünder ist.“

Sprecher 3: „Es schmeckt nicht. Man muss es richtig braten, es muss heiß sein, dann schmeckst und merkst du die Mehlschicht zwischen dem Fisch und der Panade nicht.“
(Pause, kaut)
„Was ist Moltofill?“

Schweigen.

Sprecher 1 (leicht vorwurfsvoll): „Du kennst Moltofill nicht?!“

Sprecher 3: „Nein.“

Sprecher 2: „Das ist ein altdeutsches (sic!) Zeug, das hier jeder benutzt.“

Sprecher 1: „Kriegst du in jedem Baumarkt. So ein Pulver zum Anrühren. Gips. Für Spachtelmasse. Kannst Du alles mit befestigen: Balkongeländer im Boden, Dübel in der Wand.“

Sprecher 2: „Ist altdeutsch. Was Persil unter den Waschmitteln, ist Moltofill unter den Gipspulvern. Damit kriegst du alles fest. Kennt jeder.“

Sprecher 3 (will jetzt auch endlich mal Kennerschaft beweisen): „Also, die können es hier nicht. Egal, was ich esse, es schmeckt einfach nicht. Also: Das beste Öl zum Braten, ist Kokosöl. So gesund. Das Beste! Und du kannst es für alles verwenden, es beliebig erhitzen, so heiß, wie du willst. Es sieht übrigens garnicht aus wie Öl. Es ist fest, wie Wachs. Wie Paraffin eigentlich. Aber man sagt Öl dazu. Und wisst ihr, warum?“ (triumphierend): „Ich hab da eine Sendung gesehen. Da, wo es herkommt, ist es so warm, dass es flüssig ist. Aber hier, hier ist es zu kalt. Da wird es fest. Aber du kannst es für alles verwenden. Nur stinkt es nachher im ganzen Haus nach Kokos. Überall. Also, am besten man nimmt es zum Grillen, da ist man ja eh draußen.“

***

Fassen wir zusammen: Eigentlich kann man fast alles für fast alles verwenden. Doch während die Globalisierung an dieser Stelle einen Triumph verbuchen kann (Kokosöl), gibt es in Sachen Wiedervereinigung auch nach beinahe drei Jahrzehnten noch immer Nachholbedarf (Moltofill).

Annie Ernaux, Didier Eribon und Fragen des autobiographischen Schreibens

Es sah in diesem Herbst eine Weile so aus, als fände sich unter den Neuerscheinungen, die ich (an-)gelesen habe, kein Buch, das mir beim Lesen den Eindruck machte, es sei eines jener, auf die ich gewartet habe, ohne es zu wissen. Jetzt bin ich doch fündig geworden:
Mich erinnernd an meine ziemlich atemlose Lektüre von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, die ich einer Sommergrippe 2016 verdanke, fand vor vierzehn Tagen in meiner allerliebsten Karl-Marx-Buchhandlung in der Jordanstraße Annie Ernaux „Die Jahre“ (frz. „Les années, 2008). Eribon bezieht sich sehr deutlich auf Ernaux, insbesondere auf dieses Buch, das Sonja Finck nun für den Suhrkamp Verlag übersetzt hat. Ich habe das Buch in einem Rutsch und gelesen und die anstehende Arbeit dafür liegen lassen. Seitdem bewegt mich der Text, fasziniert mich die Autorin, ihr Stil, möchte ich mehr wissen über ihre Geschichte als individuelle …
… und als kollektive. Denn genau darum ist es der Autorin in „Die Jahre“ zu tun: ihre Geschichte als Geschichte einer Frau in einer ganz bestimmten Zeit und ihren Wandlungen zu vollziehen.
Ernaux, die am 1. September 1940 als Tochter eines Wirtes und Landenbesitzers im Norden Frankreichs geboren wurde, wuchs in einfachen Verhältnissen auf und entfernte sich durch ihr Studium und ihren Beruf als Lehrerin von ihrem Herkunftsmilieu. In „La Place“ (dt. „Das bessere Leben“) erzählt — wie übrigens auch Eribon — ausgehend vom Tod des Vaters die Geschichte ihres Vaters losgelöst zu ihrem eigenen Verhältnis zu ihm.
Spannend war heute, im Lesen von „Das bessere Leben“, an dem Ernaux von November 1982 bis Juni 1983 geschrieben hat, zu sehen, wie viel von dem, was in „Die Jahre“ formal, aber auch inhaltlich zentral ist, schon angelegt ist. Dadurch wird mit Ernaux‘ Aussage, sie hätte „Die Jahre“ ohne die vorangegangenen Bücher niemals schreiben können, viel plausibler. Gerne möchte ich das noch genauer wissen, leider ist bislang noch viel zu wenig ins Deutsche übersetzt.
Spannend war und ist auch zu sehen, wie stark sich Eribon tatsächlich auf das Verfahren von „Die Jahre“ bezieht, wie er, gleich Ernaux, anhand von Fotos das Kollektive an der indivuellen Erfahrung betrachtend abzulesen sich anschickt. Ich bin auch schon extrem gespannt auf „Gesellschaft als Urteil“, das, wie „Die Jahre“ ein Buch über ein Buch ist, in diesem Fall über „Rückkehr nach Reims“ und dessen Erfolg.
Noch bin ich aber bei Ernaux, bei „Die Jahre“, das in seinem Versuch über das Betrachten von Fotos, über Erinnerungen an Tischgespräche bei Familienessen und über Schilderungen gesellschaftlicher Prozesse und unter Vermeidung des Wortes „Ich“ eine atmosphärische Dichte zu erzeugen vermag, die mich schier überwältigt hat, gerade weil die Analyse dadurch etwas Distanziertes behält, zugleich entlarvend und diskret anmutet.
Mittendrin in der Recherche, gespannt auf neue Erkenntnisse, Querverbindungen, weiß ich bereits jetzt, dass ich hier ein Buch gelesen habe, dessen Eindruck weit über eine Saison hinausreichen wird, ein Buch zum Immer-Wieder-Lesen, Diskutieren, Verschenken. („Wie hoffen geht, weißt du.“ — Peter Kurzeck)

Krass ist übrigens, wie Ernaux‘  frühere ins Deutsche übersetzte Romane inszeniert sind: Frauen in Dessous, Sex sells, bei Genet wäre niemand drauf gekommen, den Männern auf dem Cover die Köpfe abzuschneiden, aber nun gut, wir wollen hoffen, dass die Zeiten, in denen man literarisches Nachdenken über weibliche Sexualität und Begehren ästhetisch der Gestaltung von abstoßenden Bierreklamen gleichstellt, bald mal vorbei sein werden. (Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. )

 

 

Interview mit Mary Pepchinski und Wolfgang Voigt über die Ausstellung „Frau Architekt“ im Deutschen Architekturmuseum

Am 19. September 2017 habe ich ein Interview geführt mit Mary Pepchinski und Wolfgang Voigt, zweien von insgesamt drei Kurator*innen der Ausstellung „Frau Architekt“, die vom 30. September bis zum 8. März 2018 im Deutschen Architekturmuseum zu sehen ist.
Es war ein überaus anregendes und engagiertes Gespräch über Genderfragen, den Berufsstand und die Konzeption der Ausstellung. Wir haben aber auch nachgedacht über Fragen der Vermittlung und darüber, dass dieses Thema trotz der großartigen und intensiv durchdachten Ausstellung, die zu sehen sich unbedingt lohnt, noch lange nicht ausgeschöpft ist. „Frau Architekt II“ könnte sofort konzipiert werden.

Das Interview wird in der Novemberausgabe der Frankfurter Hefte erscheinen. Die Ausstellung läuft im Deutschen Architekturmuseum, ein umfangreiches Begleitprogramm gibt es im Museum und an weiteren Orten.